Das rote Zimmer
weniger geschlafen als ich. Er war groß, mindestens eins achtzig. Er schüttelte mir die Hand. »Ich bin Gabe«, stellte er sich vor.
»Wir haben uns schon gesehen«, antwortete ich. Er starrte mich verwirrt an. »Im Krankenhaus. Gestern Nacht.
Heute Morgen. Wie auch immer.«
»Oh, ja, tut mir Leid, da war ich nicht gerade in Bestform. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Ich mache Tee«, bot die Beamtin dienstbeflissen an und trottete wie ein Dienstmädchen in die Küche.
»Wie geht es Ihrer Frau?«
Gabes Miene wurde sorgenvoll. »Ich weiß es nicht.
Besser als gestern Nacht.«
»Das ist gut. Kann ich kurz mit ihr sprechen?«
Gabe schien sich nicht recht wohl in seiner Haut zu fühlen. Er schob die Hände in die Hosentaschen, zog sie aber gleich wieder heraus. »Darf ich Sie vorher etwas fragen?«
»Natürlich.«
»Ist Bry wirklich von demselben Kerl angegriffen worden, der diese schrecklichen Morde begangen hat?«
»Es scheint zumindest möglich. Ihre Frau ist genau an der Stelle überfallen worden, wo eine der Leichen gefunden wurde.«
»Aber das kommt mir so unwahrscheinlich vor«, erwiderte er. »Warum um alles in der Welt sollte jemand an die Stelle zurückkehren, wo er bereits einen Mord begangen hat? Das klingt so riskant.«
»Ja, aber Mörder tun so etwas. Das ist keine Theorie, sondern es passiert täglich. Mörder kehren an den Tatort zurück.«
»Gut, gut«, sagte Gabe, als spräche er mit sich selbst.
Am liebsten hätte ich ihm die Hand auf die Schulter gelegt und ihn getröstet, aber es war besser, ihn reden zu lassen.
»Was ich Sie fragen wollte, klingt wahrscheinlich dumm oder paranoid, aber ich würde gern wissen, ob Bry noch in Gefahr ist. Könnte er versuchen, ein weiteres Mal an sie heranzukommen?«
Ich überlegte einen Augenblick. Ich wollte ihm keine vorschnelle Antwort geben.
»Die ermittelnden Beamten sind der Meinung, dass der Mann, der diese Verbrechen begangen hat, ein Opportunist ist. Spätnachts am Kanal stellte Ihre Frau für ihn natürlich eine leichte Beute dar.«
Gabe sah mich aus schmalen Augen an. »Und was ist Ihre Meinung?«
»Ich sollte vielleicht vorausschicken, dass ich von der Polizei engagiert worden bin, damit ich neue Ideen einbringe, in andere Richtungen denke. Ich habe von Anfang an vermutet, dass irgendwas die beiden ersten Opfer miteinander verbindet.«
»Was? Warum?« Gabe Teale klang, als befände er sich gerade mitten in einem Albtraum.
»Keine Ahnung. Es ist nur so ein Gefühl. Vielleicht stimmt es gar nicht, und ich liege völlig falsch. Die Polizei ist jedenfalls nicht meiner Meinung, so viel steht fest. Ich wollte nur offen zu Ihnen sein.«
»Aber falls Sie nicht falsch liegen …«, sagte er ganz langsam, als könnte er vor Müdigkeit kaum noch klar denken, »… dann würde das bedeuten, dass Bry noch in Gefahr ist.«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, versuchte ich ihn zu beruhigen. »Es steht völlig außer Frage, dass die Polizei für ihre Sicherheit sorgen wird.«
»Dann ist es ja gut«, antwortete er, wirkte aber nicht sehr überzeugt. »Danke.«
»Kann ich jetzt Ihre Frau sehen?«, bat ich ihn so sanft wie möglich.
»Ich bringe Sie zu ihr. Möchten Sie unter vier Augen mit ihr sprechen?«
»Das liegt ganz bei Ihnen«, antwortete ich. »Bestimmt ist es ihr lieber, wenn Sie dabei sind.«
»Sie befindet sich da drin.« Er schob die Tür auf und streckte den Kopf hinein. »Bry? Die Frau Doktor ist da.«
Ich folgte ihm hinein. Sie hatten aus zwei Räumen einen großen gemacht, der die ganze Breite des Hauses einnahm.
Durch das große Fenster auf der einen Seite konnte man auf die Straße hinaussehen, durch die Verandatür auf der anderen Seite in den Garten. Auf der Gartenseite saß Bryony Teale auf einem großen, rostfarbenen Sofa. Sie war barfuß und hatte die Beine angezogen. Über einer blauen, dreiviertellangen Hose trug sie einen kräftig orangefarbenen Pulli. Ihr Mann zog einen Sessel für mich heran. Dann setzte er sich neben seine Frau auf das Sofa, sodass sie sich an ihn lehnen konnte. Die beiden tauschten einen Blick, und Gabe lächelte sie beruhigend an.
An der Wand über ihr hing ein postergroßes Foto von einem kleinen Mädchen auf einer menschenleeren Großstadtstraße. Das Mädchen war wie eine Zigeunerprinzessin gekleidet, aber am allermeisten beeindruckten mich ihre dunklen, wilden Augen, die direkt in die Linse blickten. Es sah aus, als hätte sie sich gerade in dem Moment umgedreht und
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