Das rote Zimmer
Uhr. Bis zu meiner Besprechung mit Oban und Furth hatte ich noch zwei Stunden Zeit, und noch drei, bis ich in Bryony Teales Haus erwartet wurde. Ich spielte mit dem Gedanken, heimzufahren und zu duschen, mich vielleicht ein wenig hinzulegen, aber plötzlich fühlte ich mich überhaupt nicht mehr müde. Ganz im Gegenteil, der Mangel an Schlaf gab mir ein Gefühl besonderer Scharfsicht und Klarheit, als würde ich auf einem hohen Berg stehen und dünne Luft einatmen.
Ich verließ das Revier und kaufte mir an der Hauptstraße eine große Flasche Mineralwasser, mit der ich mich zu einer kleinen Grünfläche in der Nähe begab, wo neben Rosensträuchern mit tief herabhängenden Zweigen ein paar Bänke standen. Dort setzte ich mich an einen Platz in der Sonne, trank mein Wasser und beobachtete die vorübergehenden Leute. Die Wärme auf meiner Haut fühlte sich angenehm, sanft und beruhigend an. Seufzend schloss ich die Augen und legte den Kopf zurück. In meinem Kopf schwirrten Bruchstücke der letzten vierundzwanzig Stunden herum. Ich hörte Will stöhnen, spürte seine Hand auf meiner Brust. Ich sah ihn, wie er am Morgen gewesen war, sehr darauf bedacht, mir ja nichts zu versprechen. Ich stellte mir Bryonys Gesicht auf dem Krankenhauskissen vor, das blassorangefarbene Haar und die karamellfarbenen Augen, ihre zitternden Hände. Dann musste ich an Doll denken, seine wehleidige Stimme, seine wirren Aussagen, sein verunstaltetes Gesicht. Der andere Zeuge – Terence Mack mit den kräftigen, haarigen Händen – war vom Licht des Tunnels geblendet gewesen.
Keiner hatte etwas Relevantes gesehen. Alle blickten immer in die falsche Richtung. Die Tragödien ereigneten sich im Schutz der Dunkelheit.
Ich saß eine ganze Weile da und dachte nach oder träumte vor mich hin, indem ich die Bilder wie Nebelschwaden vorüberziehen ließ, körperlos, aber bedeutungsschwer. Immer wieder verschwand die Sonne für eine Weile hinter den Wolken. Leute strömten aus ihren Büros und ließen sich auf der Grünfläche nieder, um ihre Sandwiches zu essen. Ich musste an Albie denken, aber er schien mir jetzt sehr weit weg zu sein – ein Mann, der mir aus der Ferne mit zurückgeworfenem Kopf und strahlend weißen Zähnen zulachte: ein Fremder. Ich konnte mir kaum mehr vorstellen, dass ich mir monatelang jeden Abend gewünscht hatte, er möge neben mir liegen, und dass ich mich morgens beim Aufwachen jedes Mal von neuem daran erinnert hatte, wie sehr er mich verletzt hatte und dass er nicht zurückkommen würde, um mich in die Arme zu nehmen und mir zu sagen, wie Leid es ihm tue. Nie wieder. Nie wieder würde er mich in den Armen halten und berühren.
Heute Abend würde ich Will zu Hause besuchen und ihn dazu bringen, mich anzusehen, mich richtig wahrzunehmen, und ich würde mich eine Weile glücklich fühlen. Ich stand auf und zwang mich, meine Gedanken wieder auf Bryony Teale zu konzentrieren.
29. KAPITEL
»Hübsch«, sagte ich, nachdem ich einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte.
»Aber keine gute Gegend«, meinte Oban verächtlich.
Oban hatte mich informiert, dass Bryony Teale bereit sei, mit mir zu sprechen. Besonders mit mir. Einer mitfühlenden weiblichen Zuhörerin. Das hatte er nicht als Kompliment gemeint. Ich ging zu Fuß, und als ich mich dem Haus näherte, glitt bei einem Auto, das vor dem Haus wartete, eine Scheibe nach unten, und eine Hand winkte mir. Oban öffnete die Tür und lud mich ein, neben ihm auf dem Rücksitz Platz zu nehmen, er wolle vorher noch mit mir reden. Dabei wäre es draußen viel schöner gewesen, aber Oban fühlte sich im Wagen offenbar wohler.
Das Haus war Teil einer Häuserreihe, die leicht geschwungen verlief, nicht so sehr wie ein kühnes C, eher wie ein Klammerzeichen. Die Häuser aus der spätviktorianischen Zeit waren hoch und schmal. Manche wirkten recht schäbig, bei einem hatte man Türen und Fenster mit Brettern vernagelt, aber ein paar trugen deutliche Zeichen neuer Pracht: lackierte Haustüren, frisch verfugte Mauern, Metallfensterläden an den Fenstern im Parterre. Oban deutete die Straße hinunter: »Vor zehn Jahren war dort ein Berg von Blumen aufgetürmt.«
»Warum?«
»Ein paar Jungs waren Richtung Euston Road unterwegs, als sie auf eine andere Gruppe Jugendlicher trafen. Sie rannten ihnen nach, bis sie da vorn bei dem Geländer einen erwischten. Sie verprügelten ihn, und als sie damit fertig waren, stieß ihm jemand ein Messer zwischen die Rippen.« Er richtete den Blick wieder
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