Das rote Zimmer
bin weinend aufgewacht.«
»Ist Ihnen an dem Mann irgendwas aufgefallen?«
Sie schüttelte verzagt den Kopf. »Es war zu dunkel. Es ist wirklich traurig, wie wenig ich dazu sagen kann. Ich glaube, er war ziemlich klein. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte er kurz geschorenes Haar, aber ich bin nicht ganz sicher. Das ist alles.«
»Ein Weißer?«
»Ja. Glaube ich zumindest.«
»Können Sie sich erinnern, was er anhatte?«
»Nein.«
»Oder was er nicht anhatte? Einen Anzug? Einen langen Mantel? Joggingshorts?«
Ihr Mund verzog sich zu einem schmalen Lächeln.
»Nein, nichts davon.«
»Eins noch«, sagte ich. »Vielleicht können Sie mir etwas über die beiden Zeugen sagen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Was haben sie gemacht?«
Bryony starrte mich verwirrt an. »Ich verstehe nicht recht.
Sie wissen doch, was sie getan haben. Sie haben den Mann verscheucht.«
Mir fiel nichts ein, was ich ihr hätte antworten sollen.
Ich musste es anders versuchen. »Nach allem, was Sie erzählt haben, war es ein schreckliches Durcheinander.
Vielleicht hatten Sie das Gefühl, von drei Leuten angegriffen zu werden. Oder von zwei, die von der dritten Person verscheucht wurden.«
»Warum?«
»Nur so eine Überlegung von mir.«
Bryony starrte nachdenklich vor sich hin. »Ich versuche gerade, das Ganze vor meinem geistigen Auge Revue passieren zu lassen. Ich kann dazu nur sagen, was ich schon gesagt habe: Ich bin von einem Mann angegriffen worden, der dann davongelaufen ist. Das ist alles.«
»Nur der Angreifer und zwei Zeugen, die ihn verjagt haben?«
»Ja.« Sie wirkte verwirrter als zuvor.
»Sicher?«
»Ja. Nein. Nun ja, so sicher man bei solchen Dingen eben sein kann.«
»Wenn Sie bei der Polizei eine Aussage machen, wird man Ihnen noch viele andere Fragen in dieser Richtung stellen. Es ist erstaunlich, an was man sich alles erinnern kann, wenn man es von der richtigen Seite her anpackt.«
»Ich werde mein Bestes tun, Dr. Quinn, das verspreche ich Ihnen.«
»Bitte, nennen Sie mich doch Kit. Wenn jemand Dr. Quinn zu mir sagt, blicke ich mich immer suchend im Raum um, ob nicht jemand anders gemeint ist.«
»Dann also Kit. Darf ich noch etwas sagen?«
»Natürlich.«
Sie schluckte. »Ich bin so dankbar für alles, was jetzt für mich getan wird, aber … aber …«
»Was?«
»Ich frage mich, ob es bloß ein versuchter Raubüberfall war. Vielleicht hatte er es nur auf meine Geldbörse abgesehen.«
»Einer von den Zeugen hat das bereits erwähnt«, antwortete ich. »Seiner Aussage zufolge haben Sie gesagt, es sei doch gar nichts passiert. Demnach wollten Sie nicht mal die Polizei verständigen. Er hat darauf bestanden, das mit seinem Handy zu tun.«
Sie zog die Beine noch höher an den Körper, sodass sie mit den Knien fast an ihr Kinn stieß. »Finden Sie das seltsam?«
Ich setzte mein beruhigendstes Doktorlächeln auf.
»Überhaupt nicht. Waren Sie schon mal dabei, wenn jemand auf dem Gehsteig stolperte und hinfiel? Dabei landen die Betreffenden manchmal ganz schön hart, aber in den meisten Fällen warten sie nicht mal, bis der Schmerz ein wenig nachlässt. Sie rappeln sich sofort wieder auf und versuchen weiterzugehen, als wäre nichts geschehen. Wir Menschen neigen dazu, so zu tun, als gingen die Dinge weiter ihren normalen Gang. Man erlebt das sogar bei schweren Unfällen. Leute mit stark blutenden Wunden versuchen, ihren Weg in die Arbeit fortzusetzen. Es ist ganz natürlich, dass Sie sich einzureden versuchen, es sei nichts Ernstliches passiert.
Vielleicht versucht unser Gehirn auf diese Weise, sich vor Stress zu schützen.«
»Aber es könnte tatsächlich so gewesen sein.« Ihre Stimme hatte einen flehenden Unterton. »Vielleicht war es nur ein Raubüberfall. Ein schrecklicher Zufall.«
»Vielleicht haben Sie ja Recht. Wir werden diese Möglichkeit auf jeden Fall in Erwägung ziehen. Aber ich habe schon mit Ihrem Mann darüber gesprochen. Wir wollen kein Risiko eingehen.«
»Das ist gut«, antwortete sie niedergeschlagen.
Ich beugte mich vor. »Man hat Ihnen das wahrscheinlich schon gesagt, aber ich möchte es noch mal wiederholen: Es kommt häufig vor, dass Menschen, die etwas Derartiges durchgemacht haben, danach eine Weile an Depressionen leiden. Man ist verwirrt, macht sich möglicherweise selbst Vorwürfe oder bekommt sie von anderen zu hören.«
Ich warf einen Blick zu Gabe hinüber. »Ich weiß, was Sie meinen«, erklärte er. »Ich weiß auch, dass wir manchmal in etwas gereiztem Ton
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