Das rote Zimmer
ihren eindringlichen Blick auf den Fotografen gerichtet. Man wollte mehr über das Mädchen wissen, was aus ihr geworden war, wo sie sich inzwischen aufhielt.
»Wirklich erstaunlich«, erklärte ich.
Bryony wandte den Kopf und brachte zumindest den Anflug eines Lächelns zustande. »Danke«, sagte sie. »Das habe ich gemacht.«
»Dann sind Sie Fotografin?«
»Ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt noch so nennen darf«, antwortete sie leicht wehmütig. »Ich habe Schwierigkeiten, Leute zu finden, die bereit sind, die Sorte Fotos, die ich machen möchte, zu veröffentlichen.«
»Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Das da habe ich letztes Jahr etwa einen halben Kilometer von hier aufgenommen«, erklärte Bryony. »Ich war zu Fuß unterwegs, und sie ist mir mit ihrer Familie über den Weg gelaufen. Es waren Flüchtlinge aus Rumänien. Ist sie nicht schön?«
Wieder betrachtete ich das Bild. »Sie schaut so wild«, bemerkte ich.
»Vielleicht habe ich ihr Angst gemacht«, meinte Bryony.
»Wie fühlen Sie sich heute?«, fragte ich.
»Tut mir Leid, dass ich so aus der Fassung geraten bin.«
»Seien Sie nicht albern«, entgegnete ich. »Sie brauchen doch niemandem etwas zu beweisen. Sie brauchen nicht mal mit mir zu reden, wenn Sie nicht wollen.«
»Nein, nein, ich möchte mit Ihnen sprechen. Es sieht mir überhaupt nicht ähnlich, mich so gehen zu lassen.«
Ich betrachtete sie genauer. Allem Anschein nach ging es ihr besser als nachts im Krankenhaus, aber sie war noch immer sehr blass und hatte dunkle Augenringe. »Nach dem, was Sie durchgemacht haben, wäre jeder geschockt«, sagte ich. »Ihre Arbeit bringt es wohl mit sich, dass Sie oft zu Fuß an seltsamen Orten unterwegs sind?«
»Hin und wieder schon«, antwortete sie.
»Sie sollten trotzdem aufpassen. Ich habe gerade mit dem Leiter der Mordkommission gesprochen. Er hält es für keine sehr gute Idee, nachts am Kanal spazieren zu gehen.«
»Das sage ich ihr ständig«, mischte sich Gabe ein. »Aber sie ist völlig furchtlos. Und starrköpfig. Sie ist schon immer gern spazieren gegangen.«
»Inzwischen sehe ich das ein bisschen anders«, erklärte sie kleinlaut.
»Na ja, vielleicht nicht mehr allein, wenigstens nicht nachts«, entgegnete ich betont munter, weil ich das erste Aufkeimen eines Streits spürte. »Macht es Ihnen wirklich nichts aus, darüber zu sprechen?«
»Ich möchte helfen.«
»Wenn Sie ein schlechtes Gefühl dabei haben, dann sagen Sie es mir, und ich höre sofort auf.«
»Es geht schon.«
»Können Sie mir schildern, was passiert ist?«
»Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach, aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen eine große Hilfe sein werde.
Es ist alles so schnell passiert. Ich spazierte den Pfad entlang. Plötzlich spürte ich einen Arm, der an mir zerrte.
Er zerrte und zerrte, und ich stieß einen Schrei aus. Dann waren da schon diese anderen Leute, die mich packten. Es klingt so blöd, aber anfangs kapierte ich überhaupt nicht, dass sie versuchten, mir zu helfen. Bevor ich wusste, wie mir geschah, war der Mann schon davongelaufen.«
»Das war alles?«
»Alles?«
»Hören Sie, Bryony, Sie haben durch den Überfall einen schweren Schock erlitten. Ein Trauma. Sie brauchen das, was Ihnen passiert ist, nicht herunterzuspielen.«
»Oh.« Sie stieß ein zittriges Lachen aus. »Also, um ehrlich zu sein, habe ich mir vor Angst fast in die Hosen gemacht. Es stimmt, dass meine Arbeit es mit sich bringt, dass ich mich an den seltsamsten Orten herumtreibe, aber wenn man ständig vor allem Angst hat, bringt man nie etwas Anständiges zuwege.
Dann würde ich bloß in meinem Garten sitzen und Selbstporträts machen.« Wieder stieß sie ein kurzes Lachen aus. »Aber um ehrlich zu sein, glaube ich, dass dieser Spaziergang am Kanal fast so eine Art Herausforderung an mich selbst war. – Klingt das in Ihren Ohren total verrückt?«
»Nein. Es klingt gewagt, aber nicht verrückt.«
»Jedenfalls war mir sowieso schon ein bisschen mulmig zumute, als ich da so in der Dunkelheit dahinmarschierte«
– sie blickte zu Gabe hoch, der ihr aufmunternd zunickte –
, »und plötzlich tauchte da diese bedrohliche Gestalt auf, und ich spürte überall seine Hände. Ich dachte, er würde mich umbringen oder in den Kanal werfen. Oder vergewaltigen.« Sie schauderte. »Jetzt im Nachhinein versuche ich mir einzureden, dass gar nichts passiert ist, aber gestern Nacht dachte ich, ich müsste sterben. Ich habe sogar davon geträumt und
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