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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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diesen obdachlosen jungen Leuten vorbeigegangen – jungen Leuten wie denen, mit denen ich jetzt meine Tage verbringe. Ich war an Pennern und Prostituierten vorübergegangen, ohne sie überhaupt wahrzunehmen, es sei denn, sie standen mir direkt im Weg.«
    »Und dann hast du sie plötzlich wahrgenommen?«
    »Na ja, ein Damaskuserlebnis war es nicht gerade.«
    »Aber dein Gewissen hat dich dazu gebracht, alles zurückzulassen und das Jugendhaus zu gründen?« Ich wollte, dass er etwas Gutes über sich sagte.
    »Ich benutze dieses Wort nur, wenn ich versuche, aus irgendeinem Geschäftsmann, der sich als Wohltäter fühlen möchte, eine Spende herauszuquetschen. Die Politiker haben es entwertet. Gewissen. Integrität. Ehre. Wahrheit.
    Aufrichtigkeit. Liebe.«
    Seine Stimme klang verächtlich. »Es war eher eine Art Zwang. Mach keinen Kreuzritter aus mir. Ich habe es für mich getan, um mich selbst zu retten. Möchtest du noch einen Drink?«
    »Ja. Warum nicht? Und deine Frau?«
    »Sie ist geblieben.«
    »In dem vollen Haus.«
    »Ja.«
    »Kinder?«
    »Nein.«
    »Siehst du sie noch manchmal?«
    »Nein.«
    »Fehlt sie dir?«
    »Nein.«
    »Bist du einsam?«
    »Nein. Oder doch, aber erst jetzt.«
    »Warum jetzt?«
    »Warum wohl, Kit?«
    »Machst du das oft?«
    »Was?«
    »Was wir gleich tun werden.«
    »Nein. Du?«
    »Nein. Weißt du das denn nicht?«
    »Menschen können auf eine bestimmte Art wirken und in Wirklichkeit ganz anders sein.«
    »Wie wirke ich denn auf dich?«
    »Wie eine Frau, die Angst hat, sich aber zwingt, es trotzdem zu tun.«
    »Wovor habe ich denn Angst?«
    »Ich weiß nicht. Vor mir?«
    »Warum sollte ich Angst vor dir haben?« Dabei hatte er Recht – ich war erfüllt von Angst und Unruhe.

    »Dann vielleicht vor der Welt. Angst davor, verletzt zu werden?«
    »Eigentlich bin ich diejenige, die so banales psychologisches Zeug von sich geben sollte.«
    »Trink aus.«
    »Fertig. Und jetzt?«
    »Wenn ich dich jetzt bitten würde, mit nach oben zu kommen, was würdest du sagen?«
    »Frag mich, dann weißt du es.«
    »Kommst du mit mir nach oben?«
    »Ja.«
    Er packte die Flasche am Hals, und ich folgte ihm über die schmale, nackte Treppe in sein Schlafzimmer: ein Futon, ein Schrank, eine große Stehlampe und unerwartet fröhliche gelbe Vorhänge, die halb zurückgezogen waren und sich im Wind, der durch das offene Fenster hereinwehte, leicht bewegten.
    »Knöpf deine Bluse auf.«
    »Gib mir die Flasche. Ich muss mir erst Mut antrinken.
    Jetzt. So?«
    »Ja. Du bist wirklich sehr hübsch.«
    »Warum schaust du dann so gequält?«
    »Weil du so hübsch bist.«
    »Ach was.«
    »Du solltest mir nicht vertrauen, Kit.«
    »Das tue ich nicht. Ich vertraue dir kein bisschen. Das ist genau der springende Punkt.«
    »Ich werde dir nicht gut tun.«
    »Das spielt keine Rolle.«

    Hinterher lag ich auf seinem Futon und betrachtete durchs Fenster den Dreiviertelmond am tintenschwarzen Himmel.
    Will lag schweigend neben mir und starrte aus halb geschlossenen Augen zur Decke hinauf. Nach einer Weile sagte er: »Ich habe Hunger.«
    »Ich habe Durst.«
    »Möchtest du was essen?«
    »Ich hatte nicht den Eindruck, dass du viel zu essen dahast.«
    »Habe ich auch nicht, aber ich könnte uns was holen.
    Italienisch, indisch, chinesisch, thailändisch, griechisch.
    Es gibt hier in der Nähe sogar einen Japaner.«
    »Ist mir egal. Irgendwas.«
    »Ich bin gleich wieder da.« Er schlüpfte in seine alte Jeans und ein graues Sweatshirt. »Geh nicht weg.«
    Ich blieb auf dem Bett liegen und lauschte seinen Schritten auf der hölzernen Treppe. Dann hörte ich die Haustür ins Schloss fallen. Ich war ganz allein in Wills Haus. Nach ein paar Minuten ging ich ins Bad. Sehr sauber und funktionell. Nachdem ich mich gewaschen hatte, schlüpfte ich in den dicken blauen Bademantel, der an der Tür hing, und wanderte ins Nachbarzimmer, einen quadratischen Raum mit Blick auf den Garten hinter dem Haus. In dem Zimmer standen nur ein großes Klavier und ein Hocker. Ich berührte eine der elfenbeinfarbenen Tasten, und ein einzelner Ton schwebte durch den Raum.
    Es schien ein bisschen verstimmt zu sein. Ich klappte den Deckel des Hockers hoch und fand ein paar Musikstücke mit Eselsohren und Bleistiftanmerkungen am Rand, außerdem eine Dose Bier.
    Ich ging nach unten, um mir etwas zu trinken zu holen, weil sich mein Mund nach dem ganzen Alkohol völlig trocken anfühlte. Als ich gerade die Diele durchquerte, klingelte das Telefon, und der

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