Das rote Zimmer
Gartenwicken stand auf dem Tisch zwischen uns – mir fiel ein, dass Philippas gesprächige Freundin Tess mir erzählt hatte, das seien ihre Lieblingsblumen gewesen. Auf dem Kaminsims hinter Mrs. Vere lehnte ein großes Schwarzweißfoto der Verstorbenen, sodass ich, wenn ich die Mutter ansah, auch auf ihre ermordete Tochter blickte, die mit ihrem ernsten Lächeln und ihren dunklen Augen eindringlich in den Raum hineinstarrte, den sie für immer verlassen hatte.
Pam Vere schien um zehn Jahre gealtert, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie war wahrscheinlich noch keine sechzig oder nur knapp darüber, aber ihr Gesicht war aschfahl und müde, und die Falten darin wirkten so tief, dass sie wie in Stein gemeißelte Rillen aussahen. Ihre Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst.
Bei meinen früheren Besuchen hatte mich vor allem Emilys Schicksal betroffen gemacht, keine Mutter mehr zu haben, aber ich hatte nicht wirklich darüber nachgedacht, wie es wohl für Pam war, ihre Tochter zu verlieren, ihr geliebtes einziges Kind – bis ich jetzt in ihr trauriges Gesicht blickte und sah, wie sehr ihre Hände zitterten, wenn sie die Armlehnen des Sessels losließen.
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann«, wiederholte sie.
»Es tut mir so Leid, dass ich Sie noch einmal stören muss. Aber wäre es vielleicht möglich, ein paar von Philippas Sachen durchzusehen?«
»Warum?«
»Hat die Polizei sie sich schon vorgenommen?«
»Nein, natürlich nicht. Warum um alles in der Welt sollte sie? Meine Tochter ist von einem Verrückten umgebracht worden, da draußen …« Ihre Hände deuteten zum Fenster.
»Ich würde mich trotzdem gern ein bisschen umsehen.«
»Sie sprechen aber nicht mehr mit Emily, oder?«
»Im Augenblick nicht, nein. Ist sie da?«
»Ja, oben, in ihrem Zimmer. Ich kümmere mich tagsüber um sie, bis ihr Vater von der Arbeit zurückkehrt. Bis die Dinge sich wieder beruhigt haben. Sie verbringt die meiste Zeit in ihrem Zimmer. Zum Glück kommt sie bald in den Kindergarten.«
»Wie geht es ihr?«
»Philippa besaß eine Strickjacke, die sie besonders gern trug. Die benutzt Emily jetzt als Decke. Sie rollt sich darauf zusammen und lutscht an ihrem Daumen. Der Arzt sagt, ich soll sie lassen, das sei ihre Art, mit Philippas Tod umzugehen.«
»Klingt vernünftig.« Ich musterte sie eindringlich.
Machte ich sie irgendwie wütend? Benahm ich mich wie ein Elefant im Porzellanladen?
»Jeremy löst seine endlosen Kreuzworträtsel, und wenn er glaubt, dass niemand ihn hören kann, weint er. Emily liegt auf ihrem Teppich …« Sie rieb sich die Augen. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was am besten ist.«
»Wie werden Sie damit fertig?«, fragte ich.
»Ich?« Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Ich komme schon irgendwie durch den Tag.« Sie stand abrupt auf.
»Wonach suchen Sie?«
»Hatte sie einen bestimmten Ort, wo sie ihre Sachen aufbewahrte – Briefe, Tagebücher, solche Dinge?«
Sie holte tief Luft, als säße tief in ihrer Brust ein heftiger Schmerz. Mir war klar, dass sie mit dem Gedanken spielte, mir nahe zu legen, ich solle verschwinden und mich nie wieder blicken lassen.
»Am ehesten im Schreibtisch in ihrem Schlafzimmer«, sagte sie schließlich. »Ich bin aber nicht sicher, ob Sie dort außer Rechnungen und Briefen viel finden werden. Wir haben noch nicht alle ihre Sachen durchgeschaut.« Sie sah einen Moment zum Foto ihrer Tochter, wandte dann aber schnell den Blick ab.
»Jeremy hat inzwischen den Großteil ihrer Kleidung aussortiert und einer wohltätigen Organisation gespendet.
Ihr Tagebuch hat die Polizei bereits mitgenommen.«
»Ja, ich weiß.«
»Es gibt nichts zu finden. Sie ist einfach eines Tages in den Park gegangen und nicht zurückgekommen.«
»Darf ich trotzdem einen Blick in ihren Schreibtisch werfen?«
»Meinetwegen. Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?«
Ich kam mir vor wie eine Einbrecherin, als ich mich schließlich in dem großen Schlafzimmer umsah, das eindeutig von einer Frau eingerichtet worden war und noch immer so aussah, als würde es von einem Paar bewohnt. An der Wand stand eine Kommode mit einer Menge Krimskrams, auf dem Bett lagen zwei aufgeschüttelte Kissen. Eine Seite des offenen Schranks aber war leer, abgesehen von den Dutzenden von Kleiderbügeln, die an der Stange hingen.
Der wie ein Sekretär aussehende Schreibtisch stand unter dem Fenster, das auf den Garten hinter dem Haus hinausging. Neben einem kleinen Krug mit
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