Das rote Zimmer
was.«
»Suchen Sie nach einer weiteren Verbindung zwischen den Fällen?«
»Keine Ahnung.«
»Aber Kit!« In Obans Stimme schwang eine Spur von Verzweiflung mit. »Wir haben doch schon genug Verbindungen. Eine der wichtigsten haben Sie selbst entdeckt. Wieso suchen Sie nach anderen?«
»Ich weiß es nicht.« Es kam mir vor, als hätte ich plötzlich überhaupt keine Energie mehr. »Vielleicht tappe ich einfach nur im Dunkeln.«
»Das haben Sie gesagt, nicht ich«, meinte Oban. »Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie den Lichtschalter gefunden haben.«
Nun hatte er wirklich aufgelegt.
Ich fuhr in die Klinik und verbrachte einen hektischen Tag damit, Anrufe entgegenzunehmen, Post zu beantworten und den Vorsitz bei einer Besprechung zu führen, bei der es um einen Jungen ging, der das Haus seiner Pflegeeltern in Brand gesteckt hatte. Anschließend fungierte ich als Beisitzerin bei zwei Bewerbungsgesprächen ziemlich hoffnungsloser Kandidaten. Ich machte interessierte Bemerkungen, ich diskutierte und argumentierte, war aber in Gedanken ganz woanders. Als ich schließlich um acht nach Hause kam, fand ich auf dem Tisch einen Zettel vor:
»Bin ausgegangen. Wird sehr spät. Der Verrückte hat wieder angerufen. Liebe Grüße. J.« War ihm doch noch etwas eingefallen?
Ich nahm ein ausgedehntes Bad und schlief dabei kurz ein. Mir war bekannt, dass man beim Autofahren einschlafen und einen tödlichen Unfall haben konnte.
Konnte man auch in der Badewanne ertrinken, wenn man einschlief? Ich ging das Risiko lieber nicht ein, stieg aus der Wanne und schlüpfte in den Bademantel. Dann rief ich Will an. Er ging nicht ran. Ich warf einen Blick in den Kühlschrank und fand eine Schüssel Reis, die ich im Stehen aß. Warm, mit Olivenöl und Parmesan hätte er besser geschmeckt. Danach verspeiste ich zwei Essiggurken und eine Tomate. Im Kühlschrank stand eine offene Flasche Wein. Ich schenkte mir ein Glas ein.
Dann schaltete ich das Radio an und stellte ohne große Überraschung fest, dass die Stimme, die ich hörte, Seb Weller gehörte. Er sprach gerade über Lianne und Philippa. Gott, er war wirklich ein Profi. Seine Worte kamen glatt und flüssig, ohne Zögern, nur hin und wieder unterbrochen von einer kurzen Pause, um seine Spontaneität zu demonstrieren.
»Offensichtlich berührt dieser Fall bei vielen Frauen, die hier in der Gegend leben, einen wunden Punkt«, erklärte er gerade.
»Ich denke oft, dass Männer das nicht so richtig verstehen können.«
»Mit Ausnahme von dir, natürlich«, murmelte ich, schämte mich aber sofort meiner Worte.
»Männer wissen nicht, wie es für eine Frau ist, eine dunkle Straße entlangzugehen, an einer einsamen U-Bahn-Station Schritte auf sich zukommen zu hören oder nachts im Bett zu liegen und den seltsamen Geräuschen draußen zu lauschen. Jede Frau, egal, ob mutig oder ängstlich, hat diese unterschwelligen Ängste in sich. Ich nenne es gern
…« – er legte eine weitere Pause ein – »… ich nenne es gern ihren roten Raum …«
»Lieber Himmel!«, rief ich laut aus.
»In diesem roten Zimmer liegen alle die Dinge verborgen, vor denen sie am meisten Angst …«
Das Telefon klingelte. Wütend drückte ich auf den Ausknopf des Radios.
»Ich bin’s.«
»Wer?«
»Mike.«
Es dauerte einen Moment, bis ich den Namen mit Michael Doll in Verbindung brachte. Neuerdings also Mike.
»Hallo?«
»Was machen Sie gerade?«
Ich spürte leichte Übelkeit in mir aufsteigen. Würde er mich als Nächstes fragen, was ich gerade anhatte? Ich zog meinen Bademantel enger um den Körper. »Warum rufen Sie an, Michael? Ist Ihnen etwas eingefallen?«
»Ich wollte mich bloß mal melden«, antwortete er. »Sie haben heute ja auch einfach so am Kanal vorbeigeschaut.«
Er schwieg einen Moment. »Es hat gut getan, Sie zu sehen.«
»Ich muss jetzt leider weg«, erklärte ich.
»Kein Problem.«
»Gute Nacht.«
»Schlafen Sie gut.«
Was nach diesem Gespräch aber nicht der Fall war. Ich wälzte mich stundenlang hin und her. Als ich am Morgen aufwachte, kam es mir vor, als hätte ich kein Auge zugetan. Meine Zunge fühlte sich an, als wäre sie am Gaumen festgeklebt. So viel hatte ich doch gar nicht getrunken, oder? Als ich schließlich aufstand, war es bereits halb neun. Julie saß mit einer Kanne Kaffee und einer Zeitung am Tisch. Weitere Zeitungen lagen über den Tisch verstreut. Julie war vier Stunden später als ich ins Bett gegangen, sah aber aus, als wäre sie gerade einem Jungbrunnen
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