Das rote Zimmer
Sie von Ihrem Apparat aus mit Philippa Burton telefoniert?«
»Nein.«
»Haben andere Leute Zugang zu dem Telefon?«
Erneutes Achselzucken. »Wahrscheinlich.«
»Ich will kein ›wahrscheinlich‹ hören. Ja oder nein.«
Wills Kinnpartie wirkte plötzlich angespannt. »Ja.«
»Ist der Apparat dabei immer unter Aufsicht?«
»Ich bin viel unterwegs. Meine Assistentin Fran ist die meiste Zeit im Büro. Zusätzlich haben wir viele Aushilfen und freiwillige Helfer, aber ich bin sicher, dass das Telefon trotzdem hin und wieder unbeaufsichtigt ist.«
»Hat Lianne zu diesem Zeitpunkt bei Ihnen im Jugendhaus gewohnt?«
»Sie hat nie fest dort gewohnt. Es könnte natürlich sein, dass sie tagsüber mal da war.«
»Das ist ein wichtiger Punkt, denn dieses Telefonat fand statt, bevor der erste Mord geschah.«
»Offensichtlich.«
»Bitte?«, fragte Oban. »Ist mir irgendwas entgangen?
Was ist daran so offensichtlich?«
Will trommelte mit den Fingern leicht auf die Tischplatte.
»Unwichtig«, antwortete er.
»Was wollten Sie damit sagen?«
Will seufzte. »Wenn diese Leute miteinander gesprochen haben, dann doch wohl, bevor sie umgebracht wurden.
Das ist alles, was ich damit sagen wollte.«
»Wer hat behauptet, dass sie miteinander gesprochen haben?«
»Sie.«
»Nein. Ich habe bloß gesagt, dass von Philippas Telefon aus bei Ihnen angerufen worden ist. Es hätte ja auch sein können, dass sie mit Ihnen gesprochen hat. Zum Beispiel.
Wobei Sie uns natürlich vorhin schon versichert haben, dass dem nicht so war. Es könnte auch jemand anders von Philippas Apparat aus telefoniert haben. Es gibt eine Menge Möglichkeiten. Deshalb wäre es für uns wichtiger denn je zu erfahren, wann Lianne sich bei Ihnen im Jugendhaus aufgehalten hat. Haben Sie da irgendwelche Aufzeichnungen?«
»Die sind nicht sehr genau.«
»Das ist aber schade.« Obans freundliche Stimme bekam einen schärferen Unterton. »Ein detailliertes Gästebuch wäre für uns extrem hilfreich gewesen.«
Will schob seinen Stuhl zurück, wobei dessen Metallbeine mit einem scheußlichen Geräusch über den Linoleumboden scharrten. Nun wirkte Will zum ersten Mal während dieses Gesprächs betroffen, was bei ihm gleichbedeutend mit wütend war. »Hören Sie«, begann er.
»Durch jahrelange Erfahrung habe ich gelernt, dass die einzige Methode, Leute wie Sie von meinen Büchern fern zu halten, darin besteht, erst gar keine zu führen.«
Einen Moment lang konzentrierte sich Oban sehr angestrengt darauf, unsichtbaren Schmutz unter seinen Fingernägeln hervorzubefördern. »Mr.
Pavic, falls Sie
damit eine Art politische Aussage treffen wollen, muss ich Ihnen sagen, dass mich das nicht besonders interessiert.
Eine junge Frau, die sich zeitweise in Ihrem Jugendhaus aufgehalten hat, ist ermordet worden. Ein weiteres Opfer hat bei Ihnen im Jugendhaus angerufen. Es tut mir Leid, wenn Sie das langweilig finden.«
Beide Männer schwiegen eine Weile. Als Will zu einer Erwiderung ansetzte, klang seine Stimme ruhig, aber auch klar und eisig, sodass ich von meinem Platz auf der anderen Seite des Raums jedes Wort verstehen konnte.
»Ich arbeite ständig mit diesen jungen Leuten«, erklärte er.
»Der Rest der Welt tut die meiste Zeit so, als wären sie unsichtbar. Dann passiert etwas, und Leute wie Sie legen plötzlich größtes Interesse an den Tag. Dann verschwinden Sie wieder. Sie werden mir also verzeihen, wenn ich für diese Aufmerksamkeit nicht übermäßig dankbar bin.« Er stand auf. »Sie scheinen nicht zu verstehen, wie mein Haus funktioniert. Wir haben keine Stechuhr. Die Leute tragen sich auch nicht in ein kleines Büchlein ein, wenn sie das Telefon benutzen.« Zum ersten Mal sah er mich richtig an. »Es handelt sich nicht um das Cheltenham Ladies’ College. Eher um einen kleinen Felsen mitten in der Brandung. Die Leute werden angespült und klammern sich eine Weile fest. Irgendwann werden sie wieder weggespült. Wenn sie dann ein bisschen stärker sind als zum Zeitpunkt ihrer Ankunft, bin ich schon froh. Auf mehr kann ich nicht hoffen.«
»War Lianne stärker, als sie ging?«
Nun konnte Will die Traurigkeit in seinen Augen nicht mehr länger verbergen. »Ich weiß es nicht.«
Als er den Raum verließ, sah er mich nicht an. Ich schaffte es auch nicht, ihm die Hand hinzustrecken oder etwas zu sagen, aber nachdem er gegangen war, biss ich mir auf die Lippe und erklärte Oban in stockenden, unausgegorenen Sätzen, dass ich seit etwa einer Woche etwas
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