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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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glauben Sie nicht auch? Nein, Sie sind noch immer nicht überzeugt. Was wollen Sie eigentlich?« Letzteres fragte er mit einem Grinsen. Sein Ton klang eher amüsiert als genervt.
    »Ich verstehe es einfach nicht.«
    »Na und? Glauben Sie, wir verstehen es? Wir brauchen es nicht mehr zu verstehen, und Sie müssen vor Ihren Kollegen auch kein Seminar darüber abhalten, oder was immer Sie sonst tun. Unsere Aufgabe bestand nur darin, den Menschen zu finden, der diese Frauen umgebracht hat, und das haben wir Gott sei Dank geschafft.«
    »Nein. Ich meine, es ergibt keinen Sinn.«
    »Viele Dinge ergeben keinen Sinn.« Er wich einem Radfahrer in neonfarbenem Lycra aus, lehnte sich kurz auf seine Hupe.
    »Aber Doll war der Mörder, Kit.«
    Ich schwieg.
    »Kit? Nun kommen Sie schon, sagen Sie es. Bloß ein einziges Mal. Es tut auch ganz bestimmt nicht weh.«
    »Ich sage ja nicht, dass Sie Unrecht haben …«
    »Aber Sie wollen auch nicht sagen, dass ich Recht habe.«
    »Nein.«

    Er lachte. Dann legte er eine Hand auf meine. »Sie haben gute Arbeit geleistet, Kit. Auch wenn Ihr Instinkt Sie letztendlich getrogen hat. Glauben Sie bloß nicht, dass ich nicht weiß, wie schwer das für Sie gewesen sein muss
    – nach allem, was passiert ist. Aber ohne Sie hätten wir völlig im Dunkeln getappt. Sie haben uns immer wieder auf die richtige Spur geführt.«
    »Nein«, widersprach ich, selbst überrascht, wie entschieden meine Stimme klang. »Nein. Ich habe Sie damals, vor Wochen, davon abgehalten, Anklage gegen Doll zu erheben. Wenn Sie ihn damals vor Gericht gestellt hätten, ob schuldig oder nicht, dann wäre er jetzt noch am Leben. Vielleicht wäre er in einem Jahr bei mir im Market Hill Hospital gelandet. Ich habe zu ihm gesagt, ihm werde nichts passieren.«
    »Solche Gedanken bringen nichts. Wir alle haben in diesem Fall unsere Fehler gemacht, aber Sie haben Verbindungen gesehen, die uns entgangen waren. Sie haben uns davor bewahrt, weitere Fehler zu machen.«
    »Aber …«
    »Lieber Himmel, Kit, lassen Sie es endlich gut sein.
    Kein Aber mehr. Sie sind die sturste Frau, mit der zu arbeiten ich jemals das Vergnügen und die Ehre hatte.«
    »Ich werde es in meinem Lebenslauf vermerken«, antwortete ich trocken.
    »Und die ehrenwerteste«, fügte er hinzu. Ich sah ihn an, aber er starrte auf die Straße.
    Ich legte ihm leicht die Hand auf den Arm. »Vielen Dank, Daniel.«

    Meine Wohnung wirkte vernachlässigt, als würde dort niemand mehr wohnen. Alle Fenster waren geschlossen, die Vorhänge halb zugezogen, als wäre ich in Urlaub.
    Sonst hatte ich immer frische Blumen in der Wohnung, aber jetzt stand nur eine Vase mit einem vertrockneten Strauß auf dem Fensterbrett in der Küche. Die Obstschale auf dem Küchentisch war leer, auf den Armlehnen des Sofas lagen keine aufgeschlagenen Bücher, an der Kühlschranktür klebten keine Nachrichten von Julie. Ich öffnete den Kühlschrank. Er war sauber und fast leer: Ein Karton Magermilch, ein Stück Butter, ein kleines, halb volles Glas Pesto, eine Tüte Kaffeebohnen.
    Wann hatte ich Julie eigentlich das letzte Mal bewusst wahrgenommen? Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen stellte ich fest, dass ich mich nicht erinnern konnte. In der Hektik der letzten Tage war sie wie eine verschwommene Silhouette am Rand meines Gesichtsfelds gewesen, präsent, aber von mir meist ignoriert. Ich konnte mich vage daran erinnern, dass sie irgendwann gesagt hatte, wir müssten reden, als ich an ihr vorbeigestürmt war, unterwegs zu irgendeinem dringenden Termin. Wann war das gewesen?
    Die Tür zu dem Raum, den ich inzwischen als ihr Schlafzimmer betrachtete, stand offen. Ich streckte den Kopf hinein. Es sah viel zu ordentlich aus. Normalerweise ließ Julie immer ihre Klamotten auf dem Boden herumliegen, ihr Bett ungemacht und ihren Lippenstift und ihre Cremedosen offen auf dem Aktenschrank stehen, den sie zur Kommode umfunktioniert hatte. Einen Moment lang fragte ich mich, ob sie vielleicht schon ausgezogen war, aber ihr Koffer stand noch da, und der Schrank war voller Klamotten.
    Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück, öffnete die Fenster und wischte Staub. Dann lief ich zu dem Delikatessengeschäft an der Ecke und kaufte Ziegenkäse und ein großes Stück Parmesan, frische Pasta, Sahne, italienische Salami, Schinken, mit Sardellen gefüllte Oliven, kleine Mandelkekse, ein kleines Töpfchen Basilikum, Artischockenherzen, vier pralle Feigen. Dabei hatte ich keineswegs den Wunsch, diese Köstlichkeiten

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