Das rote Zimmer
durchgeschnitten.«
»Stimmt.«
»Ist das ein schneller Tod?«
»Wenn man die Hauptschlagader durchschneidet, schon.«
»Das würde stark bluten, nicht wahr? Der Täter wäre voller Blut.«
»Wahrscheinlich. Aber mit Sicherheit kann ich das nicht sagen, denn da kenn ich mich nicht so genau aus. Haben Sie sich Gedanken über den Tathergang gemacht?«
»Ja, natürlich. Die Sache geht mir nicht aus dem Kopf.
Deswegen wollte ich ja auch hören, was die Polizei unternimmt.«
Ich nahm einen Schluck von meinem Tee. »Sie interessieren sich für die Ermittlungen?«
»Ich habe mit so was noch nie zu tun gehabt und mir gedacht, ich könnte vielleicht nützlich sein. Ich wollte mithelfen.«
»Sie haben gesagt, die Sache geht Ihnen nicht aus dem Kopf.«
Er setzte sich anders hin und nahm noch einen Keks aus der Packung, aß ihn aber nicht. Stattdessen brach er ihn in immer kleinere Stücke, bis schließlich nur noch Brösel auf dem Tisch lagen. »Ich gehe es immer wieder durch.«
»Sie gehen was durch?«
»Wie dieses Mädchen da am Kanal entlangspaziert und ihr plötzlich jemand die Kehle durchschneidet und sie stirbt.«
Ich zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche, die ich extra zu diesem Zweck aus Julies Vorrat entwendet hatte.
Er blickte hoch. Ich bot ihm eine an. Nachdem er sich eine genommen hatte, kickte ich meine Zündholzschachtel quer über den Tisch zu ihm hinüber, als wäre ich bei einem alten Freund zu Gast.
»Die von der Polizei haben Sie bestimmt schon gefragt, ob Sie sich an irgendwas erinnern können.«
»Stimmt.«
»Ich möchte von einem anderen Blickwinkel an die Sache herangehen. Vielleicht fällt Ihnen doch noch etwas ein. Ich würde gern ein bisschen was über die Gefühle erfahren, die das Ganze bei Ihnen ausgelöst hat.«
»Was meinen Sie damit?«
»Liannes Ermordung.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich denke viel darüber nach.«
»Weil Sie in der Nähe waren?«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Was genau geht Ihnen durch den Kopf?«
»Ich gehe es im Geiste durch.«
»Was?«
»Es. Es.« Sein Ton klang beharrlich. »Ich denke darüber nach, wie es wohl war.«
»Was glauben Sie denn, wie es war, Michael?«
Er lachte. »Ist das nicht eigentlich Ihr Job? Versuchen Sie sich nicht vorzustellen, wie es wohl ist, eine Frau umzubringen?«
»Sie haben gesagt, die Sache gehe Ihnen nicht aus dem Kopf.«
»Ich habe nichts gesehen. Deswegen stelle ich es mir vor.«
»Genau das interessiert mich«, erklärte ich. »Wenn Sie nichts gesehen haben, warum haben Sie sich dann gemeldet?«
»Weil ich in der Gegend war. Die Polizei hat dazu aufgerufen.«
»Geht es Ihnen gut, Michael? Haben Sie mit jemandem darüber geredet?«
»Sie meinen, mit einem Arzt?«
»Ja.«
»Wozu?«
»Manchmal hilft es, darüber zu sprechen.«
»Ich habe darüber gesprochen.«
»Mit wem?«
»Einer Freundin.«
»Und?«
Er zuckte mit den Achseln. »Wir haben darüber geredet.«
Nachdem wir beide einen Moment geschwiegen hatten, fuhr ich fort: »Sie sind an dem Fall interessiert. Gibt es etwas Bestimmtes, das Sie gern wissen möchten?«
Er wich meinem Blick aus. »Ich interessiere mich für die Vorgehensweise der Polizei. Ich würde gern erfahren, wie sie vorankommt. Es ist ein seltsames Gefühl, dort gewesen zu sein und nicht Bescheid zu wissen.«
»Wenn Sie über die Sache nachdenken, was sehen Sie dann vor Ihrem geistigen Auge?«
Er überlegte einen Moment. »Es ist, als würde ganz kurz ein Licht aufblitzen. Ich sehe die Frau.«
»Welche Frau?«
»Irgendeine Frau. Ich sehe sie den Treidelpfad entlanggehen. Plötzlich ist jemand hinter ihr, packt sie, schneidet ihr die Kehle durch. Ich sehe das alles im Bruchteil eines Augenblicks. Ich sehe es immer wieder.«
»Was empfinden Sie dabei?«
Er schüttelte sich, fast schaudernd. »Ich weiß nicht. Gar nichts. Ich bekomme es bloß nicht aus dem Kopf. Es ist einfach da. Ich wollte nur helfen.« Seine Stimme klang jetzt klagend und hoch, wie die eines kleinen Jungen.
Ich musste an die einzelnen Stationen seines Lebens denken, über die ich gestern in den Akten gelesen hatte, als ich aufs Revier gefahren war, um mit Furth zu sprechen: Mit acht Jahren war er ins Heim gekommen, nachdem er von seiner trinkenden Mutter vernachlässigt und von seinem Stiefvater geschlagen worden war. Mit sechzehn hatte er zwanzig verschiedene Heime und zehn Pflegeeltern hinter sich. Eine Geschichte des Bettnässens und Ausreißens. In der Schule war er gepiesackt worden, bis er
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