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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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die er aus Zeitungen und Zeitschriften gerissen hatte. Soweit ich es beurteilen konnte, reichten sie vom halb nackten Pin-up-Girl mit Schmollmund bis hin zu pornographischen Zeichnungen.
    An der Wand waren Regale angebracht, aber nicht für Bücher, sondern für allerlei Krimskrams, der recht willkürlich zusammengewürfelt wirkte: eine Plastikballerina, bei der ein Bein am Knie abgebrochen war, sechs oder sieben alte, lädierte Radios, eine Fahrradklingel, mehrere schlammbeschmierte Stöcke, ein Hundehalsband, ein Notizbuch mit einem Tiger vorne drauf, ein Jo-Jo ohne Schnur, ein Glaskrug mit Sprüngen, ein pinkfarbenes Haarband, an dem eine Rose befestigt war, eine hellblaue Sandale, eine Haarbürste, ein Stück von einer Kette, eine Zinnschüssel, ein Knäuel Schnur, ein Häufchen farbige Büroklammern, mehrere alte Glasflaschen. Mir ging durch den Kopf, dass wahrscheinlich gut fünfzig Prozent der britischen Bevölkerung Michael Doll allein schon wegen der Verbrechen, die er dieser Wohnung angetan hatte, der Todesstrafe würdig befunden hätten.
    Er bemerkte meinen Blick und erklärte halb stolz, halb abwehrend: »Das sind bloß Sachen, die ich gesammelt habe. Aus dem Kanal. Sie glauben gar nicht, was die Leute alles wegwerfen.«
    Ich sah ihm zu, wie er je einen Teebeutel in die Tassen hängte und dann in die seine vier Löffel Zucker gab.
    Dabei zitterte seine Hand so, dass ein Teil des Zuckers auf der Arbeitsfläche landete.
    »Ich mag ihn süß«, erklärte er. »Möchten Sie einen Keks dazu?«

    Ich war mir ziemlich sicher, dass ich nichts hinunterbringen würde, worauf er auch nur einen Blick geworfen hatte. »Nein, danke. Aber tun Sie sich keinen Zwang an.«
    Er nahm zwei Kekse aus einer Packung und tauchte beide so tief in seine Tasse, dass der Tee seine Fingerspitzen berührte. Als er sie wieder herauszog, waren sie so durchweicht und labberig, dass er sie auf der anderen Hand ablegen musste. Er hob sie an den Mund und leckte sie genüsslich ab. Seine Zunge war dick und gräulich. »Tut mir Leid«, sagte er mit einem Grinsen.
    Ich führte meine Tasse ganz nah an die Lippen und tat, als würde ich nippen. »Also, Michael«, begann ich. »Sie wissen, warum ich hier bin?«
    »Die von der Polizei haben zu mir gesagt, ich soll Ihnen von dem Mädchen erzählen.«
    »Ich bin Ärztin und habe schon ein paar Mal mit Leuten gearbeitet, die Verbrechen dieser Art begehen.«
    »Welcher Art?«
    »Gewalttaten gegen Frauen. Die Polizei hat mich gebeten, sie in dem Kanalfall zu beraten.« In seinem gesunden Auge blitzte eine Spur von Interesse auf. Er sah mich zum ersten Mal richtig an. »Und deswegen«, fuhr ich fort, »bin ich sehr daran interessiert, mit jedem zu sprechen, der etwas gesehen haben könnte. Sie gehören zu den Leuten, die sich gemeldet haben. Sie waren in der Gegend.«
    »Ich fische«, erklärte er.
    »Ich weiß.«
    »Ich sitze jeden Tag am Kanal. Wenn ich nicht arbeite.
    Da unten ist es so friedlich, man ist weg von all dem Lärm. Irgendwie ist es ein bisschen wie auf dem Land.«

    »Essen Sie die Fische, die Sie fangen?«
    Doll starrte mich entsetzt an. »Ich kann Fisch nicht ausstehen«, erklärte er mit angewidertem Gesichtsausdruck. »Dieses schleimige, stinkende Zeug.
    Außerdem, wer möchte schon etwas essen, das aus diesem Wasser kommt? Einmal hab ich meinem Hund einen mitgebracht. Er hat ihn nicht angerührt. Seitdem lasse ich sie einfach in meinem Netz und werfe sie am Ende des Tages zurück ins Wasser.«
    »Sie waren ganz in der Nähe der Stelle, wo das Opfer gefunden wurde.«
    »Stimmt.«
    »Wissen Sie, was passiert ist?«
    »Ich hab verfolgt, was in der Zeitung stand, aber das war nicht sehr viel. Ihr Name war Lianne. Ich hab ein altes Foto von ihr gesehen. Sie war noch ein richtiger Teenager.
    Ungefähr siebzehn, heißt es. Mit siebzehn ist man noch ein Teenager. Schrecklich.«
    »Haben Sie sich deswegen gemeldet?«
    »Die Polizei hat dazu aufgerufen. Sie wollte mit jedem reden, der in der Gegend war.«
    »Wie weit waren Sie von der Stelle entfernt?«
    »Nur ein paar hundert Meter. Richtung Fluss. Ich war den ganzen Tag dort. Beim Fischen, wie ich schon gesagt habe.«
    »Wenn Lianne dort vorbeigekommen wäre, dann hätten Sie sie gesehen.«
    »Ich hab sie nicht gesehen. Aber vielleicht ist sie trotzdem vorbeigegangen. Ich bin beim Fischen immer ganz in Gedanken. Haben Sie sie gesehen?«
    »Wie bitte?«
    »Haben Sie die Leiche gesehen?«

    »Nein.«
    »Man hat ihr die Kehle

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