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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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schließlich angefangen hatte, selbst zu piesacken.
    Während er bei wechselnden Pflegeeltern war, hatte er einmal eine Katze gequält, ein anderes Mal seine Bettwäsche in Brand gesteckt. Mit dreizehn war er in ein Spezialheim für gestörte Kinder gekommen, wo sein gewalttätiges Verhalten eskaliert war. Als er schließlich volljährig wurde, in eine schmuddelige Frühstückspension zog, durch die Straßen wanderte und im Park die Mädchen beobachtete, war er eine Bombe, die nur darauf wartete, hochzugehen.
    »Niemand hört richtig zu«, fuhr er in klagendem Ton fort.
    »Das ist das Problem. Niemand hört richtig zu. Man sagt etwas, aber die Leute hören einen gar nicht, weil sie einen für Abschaum oder sonst was halten. So nennen sie einen.
    Sie hören gar nicht, was man sagt. Deswegen gehe ich zum Fischen an den Kanal, wo ich niemanden treffen muss. Ich kann den ganzen Tag dort verbringen, sogar wenn es regnet. Der Regen macht mir nichts aus.«
    »Hat Ihnen denn wirklich nie jemand zugehört?«
    »Kein Mensch«, antwortete er. »Nie. Und ganz bestimmt nicht sie.« Ich nahm an, dass er seine Mutter meinte. »Ihr hat nie was an mir gelegen. Nachdem man mich weggebracht hatte, ist sie mich nie besuchen gekommen.
    Kein einziges Mal. Ich weiß nicht mal, ob sie noch lebt.
    Wenn ich jemals einen kleinen Jungen oder ein kleines Mädchen habe« – an dieser Stelle wurde sein Ton mehr als sentimental –, »dann werde ich sie immer knuddeln und streicheln und niemals gehen lassen.« Eine Säule aus Asche fiel auf seine Hose.
    »Und die Leute in den Heimen?«, fragte ich. »Haben Ihnen die denn auch nicht zugehört?«
    »Die? Das ist ein Witz, ein echter Witz! Manchmal habe ich schlimme Sachen gemacht, ich konnte nicht anders, ich war innerlich total voll gestopft und musste es rauslassen. Dann haben sie mich geschlagen und eingesperrt und nicht mehr rausgelassen, auch wenn ich noch so viel weinte.« Seine Augen füllten sich auch jetzt mit Tränen. »Niemand hört einen.«
    »Was ist mit Ihren Freunden?«, fragte ich vorsichtig.
    Achselzuckend drückte er seine Zigarette aus.
    »Freundinnen?«
    Nun wurde Doll leicht hektisch. Er zupfte an seiner Hose herum und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Es gibt jemanden«, antwortete er. »Sie mag mich, zumindest hat sie das gesagt. Ich habe ihr einiges erzählt.«
    »Was denn zum Beispiel?«
    »Was ich so empfinde. Sie wissen schon.«
    »Sie haben mit ihr über Ihre Gefühle gesprochen?«
    »Gefühle, ja. Und andere Dinge. Sie wissen schon.«

    »Gefühle, die Frauen in Ihnen auslösen?«
    Er murmelte etwas Unverständliches.
    »Die Gefühle, die Frauen bei Ihnen auslösen, machen die Sie nervös, Michael?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Mögen Sie Frauen?«
    Er kicherte nervös. »Natürlich. Auf dem Gebiet ist mit mir alles in Ordnung.«
    »Ich meine, als Menschen. Sind Sie mit Frauen befreundet?«
    Er schüttelte den Kopf, zündete sich eine neue Zigarette an.
    »Wenn Sie an das ermordete Mädchen denken, was empfinden Sie dann?«
    »Diese Lianne war ein Mädchen, das von zu Hause weggelaufen ist. Ich kann das gut verstehen. Ich bin auch davongelaufen, müssen Sie wissen. Ich habe immer geglaubt, meine Mom würde mich irgendwann zurückholen. Inzwischen würde ich ihr das Gesicht einschlagen, wenn sie sich blicken lassen würde. Mit einer ihrer Flaschen, bis nichts mehr davon übrig wäre. Das würde ihr eine Lehre sein.«
    »Sie wollten also der Polizei helfen, weil Sie wussten, dass Sie in der Gegend gewesen waren?«
    »Ja, genau. Ich gehe es immer wieder im Geist durch, ich kann einfach nicht damit aufhören. Ich denke mir Geschichten darüber aus.« Er sah mich an, wandte den Blick aber gleich wieder ab. »Ich gehe zum Kanal, setze mich hin und denke: Es könnte wieder passieren. Könnte es ja auch, oder? Es könnte wieder passieren, genau an der Stelle, wo ich sitze.«
    »Macht Ihnen das Angst?«

    »Irgendwie schon. Es …« Er leckte sich über die Lippen.
    »Es macht mich irgendwie nervös und irgendwie, na ja
    …«
    »Aufgeregt?«
    Er stand auf und begann in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. »Glauben Sie mir?«
    »Was soll ich Ihnen glauben, Michael?«
    »Mir glauben«, wiederholte er in beharrlichem Ton.
    Ich zögerte einen Moment, ehe ich ihm antwortete. »Ich bin hier, um Ihnen zuzuhören, Michael. Um Ihre Sicht der Geschichte zu hören. Das ist mein Job: Ich höre mir die Geschichten an, die die Leute zu erzählen haben.«
    »Werden Sie wiederkommen?

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