Das rote Zimmer
Ärztin, ich führe Gespräche mit Leuten, die Probleme haben oder die jemanden zum Reden brauchen. Und ich gebe der Polizei Ratschläge. Ein Beamter hat mich hergebracht, aber ich habe ihm gesagt, dass er draußen warten soll. Ich wollte, dass wir unter vier Augen sprechen können, nur Sie und ich.«
»Ja. Mich haben sie auch zusammengeschlagen, müssen Sie wissen. Es hat nicht nur Sie getroffen. Uns beide.«
Ich sah ihn an und fragte mich, woran es wohl lag, dass jemand wie Michael Doll nie einen normalen Job bekommen würde, und warum er die meisten Frauen abschreckte. Es gab dafür keine simple Erklärung.
Wahrscheinlich lag es daran, dass alles an ihm ein bisschen schief war. Ich musste an die Art und Weise denken, wie Betrunkene oft versuchen, nüchtern zu wirken, dabei aber niemanden hinters Licht führen können, auch wenn sie im Grunde alles richtig machen.
Doll imitierte ein normales, integriertes Mitglied der Gesellschaft. Er hatte sich anlässlich meines Besuches sogar besondere Mühe gegeben, indem er sein Hemd bis obenhin zugeknöpft und sich eine Krawatte umgebunden hatte. Die Krawatte an sich war nicht weiter ungewöhnlich, aber er hatte sie zu einem unglaublich festen, kleinen Knoten zusammengezogen, der aussah, als ließe er sich nie wieder lösen. Seine abgetragene Kordjacke war ihm eine Spur zu groß, er hatte den einen Ärmel nach innen, den anderen nach außen umgeschlagen, sodass man auf einer Seite das Futter sehen konnte. Sein Gürtel war an einer Stelle mit Kreppband umwickelt, anscheinend war er ausgefranst oder eingerissen. Er hatte sich rasiert, dabei aber eine ziemlich große Fläche ausgelassen, eine Insel aus Bartstoppeln an der Unterseite seines Kinns.
Ich wusste nicht, ob er ein böser Mensch oder ein Psychopath war. Ich wusste nur, dass er nichts besaß, nie etwas besessen hatte. Ich wusste, dass er allein lebte. Mir ist schon öfter durch den Kopf gegangen, dass die wichtigsten Worte, die jemand zu uns sagen kann, nicht
»Ich liebe dich« sind, sondern:
»In diesem Aufzug kannst du unmöglich das Haus verlassen.«
Solange wir Kinder sind, bekommen wir diese Worte immer wieder zu hören, sodass wir sie im Laufe der Zeit verinnerlichen und als Erwachsene schließlich zu uns selbst sagen. Während wir heranwachsen, lernen wir, das Gleiche zu tun und zu sagen wie die anderen, damit wir uns in der Welt bewegen können, ohne aufzufallen.
Menschen wie Michael Doll haben das nie gelernt, oder zumindest nicht auf die richtige Art und Weise. Sich so zu verhalten wie alle anderen ist für sie eine Fremdsprache, die sie ihr Leben lang mit einem seltsamen Akzent sprechen.
»Tee? Kaffee?« Auf seiner Stirn sammelten sich Schweißperlen.
»Eine Tasse Tee wäre schön.«
Er nahm zwei Tassen aus einem ansonsten leeren Schrank. Auf der einen prangte ein Bild von Prinzessin Diana, bei der anderen war der Rand angeschlagen.
»Welche möchten Sie?«
»Vielleicht die Diana-Tasse?«
Er nickte, als hätte ich einen Test bestanden. »Sie war etwas ganz Besonderes. Diana.«
Einen Moment lang sah er mich an, dann wandte er nervös den Blick wieder ab. Er schob eine Hand unter sein Hemd und begann sich heftig zu kratzen. »Ich hab sie sehr gern gehabt. Möchten Sie … ähm …« Er deutete auf das Sofa.
Ich ließ mich vorsichtig darauf nieder und antwortete:
»Ja, viele Leute haben sie sehr gern gehabt.«
Er runzelte die Stirn, als suchte er nach den richtigen Worten, und wiederholte dann resigniert, weil ihm nichts anderes einfiel: »Sie war etwas ganz Besonderes.«
In einer Ecke des voll gestopften Zimmers, das zugleich als Wohnzimmer und Küche fungierte, lagen zwei große Knochen. Ein Schwarm von Fliegen summte laut um sie herum, ebenso wie um eine Schüssel auf dem Boden, die halb voll mit Hundefutter war, Fleisch in Gelee. An der Wand über dem kleinen, fettverschmierten Herd hing einer von den Kalendern, die ausschließlich nackte Frauen mit riesigen Brüsten und Schlafzimmerblick präsentieren. Auf dem Kochfeld stand eine Pfanne mit eintrocknendem Bohnengemüse. In der Ecke lief ein kleiner Fernseher, bei dem der Ton abgedreht war. Eine weiße Linie flackerte horizontal über den Bildschirm. Das Sofa zierten Hundehaare und eine Menge Flecken, über deren Herkunft ich nicht nachdenken wollte. Auf dem Boden lagen Bierdosen, Chipstüten und überquellende Aschenbecher herum. Durch die Tür konnte ich einen Teil von Dolls Schlafzimmer sehen. Die ganze Wand war mit Bildern behängt,
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