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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Ich dachte, Sie wären total böse auf mich, nach allem, was … na ja, was passiert ist. Aber Sie behandeln mich gar nicht wie einen Nichtsnutz.«
    »Natürlich nicht.«
    »Und Sie sind hübsch. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich versuche nicht – Sie wissen schon, Sie anzumachen.
    Sie sind eine Dame. Ich mag Ihre Augen. Grau. Wie der Himmel. Ich mag es, wenn Sie mich mit diesen grauen Augen ansehen.«

    Furth saß mit finsterer Miene auf der Treppe. Fast wäre ich über ihn gestolpert.
    »Also, was hatten Sie für einen Eindruck?«, fragte er, als käme ich gerade aus dem Insektenhaus im Zoo. Wir verließen das Gebäude und stiegen in den Wagen. Doll spähte wahrscheinlich durchs Fenster zu uns heraus. Was ihm wohl durch den Kopf ging, wenn er mich mit Furth sah? Ich drehte das Autofenster herunter und ließ den warmen Wind über mein Gesicht streichen. Ein paar dicke Regentropfen klatschten auf die Windschutzscheibe, während der Himmel immer dunkler wurde.
    »Ein armer Kerl.«
    »Ist das alles? Ihr ganzes Psychogramm von ihm? Ein armer Kerl? Wir sprechen hier von dem Mann, der Ihr Gesicht ruiniert hat. Haben Sie das vergessen?«
    Ich seufzte. »Also gut. Arm, traurig, ungebildet, ungeliebt, gestört, von Selbstmitleid erfüllt, selbstgerecht, boshaft, einsam, geschädigt, verängstigt.«
    Furth grinste. »Dabei hatten Sie gerade mal die Vorspeise. Nun wird es Zeit für das Hauptgericht.«

    6. KAPITEL
    Als wir wieder auf dem Revier waren, klatschte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete mich mit einem dünnen Papierhandtuch ab. Bei der Gelegenheit entfernte ich auch gleich die letzten Spuren meines Lippenstifts.
    Anschließend bürstete ich mir das Haar und band es strenger als zuvor zurück, ohne vorwitzige Strähnen entwischen zu lassen. Ich nahm meine Ohrringe ab und ließ sie in das Seitenfach meiner Umhängetasche fallen.
    Dabei hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, als würde etwas Weiches, Undefinierbares über mein Gesicht streichen, Spinnweben oder feine Haarsträhnen. Die Luft war warm und stickig. Verbraucht. Als ich einen Blick in den fleckigen Spiegel warf, starrte mir ein strenges, blasses Gesicht entgegen. Ein farbloses Gesicht – aber das war im Moment ganz in Ordnung so.
    Furth wartete auf mich, umgeben von lauter Umzugskartons. Er hielt ein winziges Handy ans Ohr gedrückt, das unter seinem glänzenden Haar halb verschwand, doch als er mich sah, ließ er es sofort in seine Brusttasche gleiten. »Die verdammten Telefone funktionieren nicht mehr«, erklärte er. »Die. Hälfte der Computer ist auch schon weg. In vielen Räumen gibt’s nichts mehr, worauf man sitzen kann, und in den meisten Toiletten fehlt das verdammte Klopapier.« Er machte eine heftige Bewegung mit seinem gemeißelten Kinn. »Nach oben«. sagte er.
    Ich folgte ihm in einen kleinen quadratischen Raum, bei dem ein Fenster zugemalert war. In einer Ecke lehnte ein vertrockneter Gummibaum, in einer anderen lag ein zerbrochener Stuhl. Auf dem Tisch in der Mitte des Raums standen ein großer Kassettenrekorder und eine Schachtel mit Kassetten, die alle mit einer kleinen, sauberen Handschrift beschriftet waren. Furth setzte sich, und ich ließ mich ihm gegenüber nieder. Als ich merkte, dass sich unsere Knie unter dem Tisch fast berührten, zog ich meine ein wenig zurück.
    »Bereit?«, fragte er, nachdem ich die Hände auf die hölzernen Armlehnen meines Stuhls gelegt hatte. »Wir haben bis zu der Stelle vorgespult, die Sie am meisten interessieren wird.«
    Als ich nickte, drückte er auf die Play-Taste.
    Zuerst erkannte ich die Stimme gar nicht. Zum einen klang sie höher, und die Sprechgeschwindigkeit war auch ganz anders – manchmal sehr schnell, sodass ich kaum verstehen konnte, was gesagt wurde, und dann von einer Sekunde auf die andere langsam und schleppend, wobei die einzelnen Silben sehr undeutlich ausgesprochen wurden. Eine Weile dachte ich, mit dem Gerät seit etwas nicht in Ordnung, die Batterie am Ende – aber als ich mich vorbeugte, konnte ich sehen, dass es an der Wand eingesteckt war und die Spulen völlig gleichmäßig liefen.
    »Ich gehe dort hinunter. Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, gehe ich hinunter, und ich kann oft nicht schlafen, Dolly, weil ich immer daran denken muss …«
    Ich drückte die Stop-Taste. »Dolly?«
    Furth hüstelte ein wenig. »Colette – meine Kollegin Dawes – hat sich diesen Namen ausgesucht. Delores –
    abgekürzt Dolly. Verstehen Sie? Er ist Doll, sie Dolly. Auf diese

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