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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Baum, auf einem Tisch an der Wand waren Infoblätter gestapelt, auf einer Couch neben der Treppe lag eine schlafende Katze. Ich sah auf den ersten Blick, dass bei der Einrichtung des Raums ganz bewusst darauf geachtet worden war, möglichst niemanden abzuschrecken, der es durch die Tür geschafft hatte.
    Will Pavics Büro war in einem kleinen Raum gegenüber untergebracht. Die Tür stand offen. Er saß an seinem Schreibtisch und starrte mir über seinen Computer hinweg entgegen. Ich schätzte sein Alter zwischen vierzig und fünfzig. Er trug sein Haar genauso kurz wie seine dunklen Bartstoppeln und hatte buschige dunkle Augenbrauen. Im hellen Licht seines Büros wirkte er fast monochrom, ganz schwarz und grau und kantig, wie aus Granit gemeißelt.

    Sein missmutiger Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
    Als ich durch die Diele auf ihn zuging, stand er zwar auf, blieb aber hinter dem Schutzwall seines übervollen Schreibtisches stehen.
    »Hallo«, sagte ich.
    Sein Händedruck war fest, aber flüchtig. »Nehmen Sie Platz«, sagte er und nickte zu einem Stuhl in der Ecke hinüber.
    »Legen Sie die Papiere einfach auf den Boden.«
    Ich räusperte mich. Mein nervöses Lächeln wurde von Pavic nicht erwidert. An der Wand hinter ihm war jeder freie Fleck mit gelben Notizzetteln gepflastert. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich gar nicht richtig darüber nachgedacht hatte, was ich ihn eigentlich fragen wollte.
    »Sie müssen entschuldigen«, sagte ich. »Mir ist noch nicht ganz klar, was das hier eigentlich sein soll. Ein Kinderheim?«
    »Nein«, antwortete er.
    »Was dann? Eine von der Stadt finanzierte Anstalt?«
    »Die städtischen Behörden haben nichts damit zu tun.
    Der Staat auch nicht, ebenso wenig die Sozialdienste.«
    »Wer führt dann dieses Haus?«
    »Ich.«
    »Ja, aber wem sind Sie Rechenschaft schuldig?«
    Er zuckte mit den Achseln.
    »Was passiert hier eigentlich?«, wollte ich wissen.
    »Das ist ganz einfach«, antwortete er. »In diesem Haus können obdachlose junge Leute für kurze Zeit unterkommen. Wir helfen ihnen ein bisschen, erledigen ein paar Telefonate oder was sonst nötig ist und schicken sie dann wieder weg.«

    »Haben Sie Lianne auch wieder weggeschickt?« Bei dieser Frage wurde seine Miene starr. »Hören Sie, ich fange in diesem Fall ganz bei Null an«, erklärte ich und lächelte. Keine Reaktion, wie bei einem Computer, der abgeschaltet worden ist.
    »Ich möchte so viel wie möglich über Lianne in Erfahrung bringen – damit meine ich nicht, wo sie sich in den Stunden vor ihrem Tod aufgehalten, wer sie zuletzt gesehen hat oder solche Sachen. Das ist Aufgabe der Polizei. Nein, mich interessiert mehr, was für eine Art Mädchen sie war.«
    Sein Telefon läutete, aber er ging nicht ran. Das Band sprang an.
    »So gut habe ich sie nicht gekannt«, antwortete er.
    »Wie lange war sie hier?«
    »Sie war nicht hier. Nicht so, wie Sie meinen. Sie hat bloß ab und zu vorbeigeschaut. Sie kannte hier ein paar Leute.«
    »Das ergibt doch keinen Sinn. Wenn Sie so wenig mit ihr zu tun hatten, wieso waren Sie dann derjenige, der die Leiche identifizierte? Wie ist die Polizei auf Sie gekommen?«
    »Die von der Polizei sind auf mich gekommen, weil sie ein Poster mit ihrem Gesicht aufgehängt haben und daraufhin ein besorgter Bürger anonym angerufen und ihnen mitgeteilt hat, dass das Mädchen gelegentlich im Tyndale war. Dass ich sie identifiziert habe, liegt daran, dass die Polizei außer mir keinen anderen einigermaßen respektablen Menschen auftreiben konnte, der zugeben wollte, sie gekannt zu haben. Aber wir sind hier eben in Kersey Town. Wo Sie herkommen, ist das bestimmt ganz anders.«
    »Sie wissen doch gar nicht, wo ich herkomme.«

»Ich kann es mir denken«, erwiderte er, endlich mit dem Anflug eines Lächelns.
    »Ich möchte nur wissen, wie sie war, Mr. Pavic. Können Sie mir beispielsweise irgendetwas über ihren sozialen Hintergrund sagen? Oder über ihre Freunde?«
    Plötzlich wirkte er genervt, als würde ich ihm mit meinen dummen Fragen auf den Wecker gehen.
    »Sie begreifen es einfach nicht«, antwortete er. »Ich möchte über das Leben dieser Menschen nichts wissen.
    Ich will nicht so tun, als wäre ich ihr Freund. Ich versuche, eine kleine, aber effektive Hilfestellung zu geben, und meist scheitere ich damit. Das ist alles. Junge Leute, die von zu Hause weglaufen, tun das nicht ohne Grund, Dr. Quinn. Glauben Sie, das macht denen Spaß? Lianne hatte wahrscheinlich sehr gute Gründe

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