Das rote Zimmer
schmeckte bitter. »Man sieht es an ihren Augen. Es gibt Menschen, die sind gar nicht mehr richtig von dieser Welt. Solche Leute trifft man hier oft.« Sie wies mit ihrem borstigen Kinn in Richtung der Männer, die wie Bienen die Autos umschwirrten.
»Und in Liannes Augen haben Sie das auch gesehen?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich bin ihr kaum begegnet.
Sie arbeitete hier, wenn ich nicht da war. Sie wirkte vielleicht ein bisschen in sich gekehrt und hatte nicht viel Kontakt zu anderen. Hast du das auch so empfunden?« Sie wandte sich an Will.
»Vielleicht«, antwortete er vorsichtig. Ich war noch nie einem Menschen begegnet, der so wenig bereit war, sich festzulegen.
»Na ja, wer könnte ihr das auch verübeln? Immerhin war sie ehrlich, das muss man ihr zugute halten. Soweit ich es beurteilen kann, hat sie kein Geld verschwinden lassen.«
Ich betrachtete die beiden, die dicke Frau und den mürrischen Mann. Gonzalo trat von einem Fuß auf den anderen.
»Danke«, sagte ich an ihn gewandt.
Er sah mich mit seinem scheuen Lächeln an und schlich davon. Mein Wagen blitzte, von innen genauso wie von außen. Der Mann mit dem Walrossbart ließ einen letzten prüfenden Blick darüber gleiten.
»Und Ihnen möchte ich auch danken«, sagte ich zu Diana.
»Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Sie sind eine Freundin von Will.«
Da war ich mir nicht so sicher. Ich sah zu ihm hinüber.
»Lust auf einen Drink?«
Er wirkte etwas überrascht. »Okay«, sagte er, als würde ihm auf die Schnelle keine Ausrede einfallen. »Warum fahren Sie nicht einfach hinter mir her? Ich kenne hier in der Nähe ein Pub.«
Ich ließ ein paar Münzen in die Trinkgeldkasse fallen, dann fuhren wir mit unseren blitzenden Autos im Konvoi durch kleine Seitenstraßen, vorbei an alten Lagerhallen.
Ich war noch nie hier gewesen – das war ein London, das ich nicht kannte.
Das Pub lag an der Kanalseite. Von vorn wirkte es ziemlich trist und heruntergekommen, aber auf der Rückseite ging eine Terrasse auf das Wasser hinaus. Dort ließen wir uns mit unserem Tomatensaft nieder. Der Himmel nahm gerade einen seltsamen Braunton an, kleine Windböen kräuselten die dunkle, ölige Oberfläche des Wassers, und ein paar dicke Regentropfen platschten vom Himmel.
»Was sagen Sie?«, fragte Will in träumerischem Ton.
»Wozu? Zu meinem Drink?«
»Zum Kanal.«
»Sieht ein bisschen dreckig aus.«
Er nippte an seinem Drink. »Das wird sich bald ändern.
Haben Sie von dem neuen Entwicklungsprojekt gehört?«
Ich blickte auf das schwarze Wasser hinaus. Das Lagerhaus auf der anderen Seite war nach oben offen. Alle Fenster waren zerbrochen, und drinnen standen Unmengen von verbeulten, rostigen Maschinen. Überall lagen Trümmer und seltsamer Müll herum, über den ich nicht genauer nachdenken wollte, »Wer sollte den Wunsch haben, hier etwas zu entwickeln?«
»Machen Sie Witze? Eine so große Fläche erstklassigen Landes, mitten in London? In ein paar Jahren werden hier lauter Weinbars, Fitnessklubs und Wohnanlagen mit privaten Garagen stehen.«
»Ist das positiv zu sehen?«
Er leerte sein Glas. »Die Gegend wird respektabel werden«, antwortete er.
»Aus Ihrem Mund klingt das wie ein Schimpfwort, aber es könnte Ihren jungen Leuten doch Jobs bringen.«
»Ich fürchte, die meisten werden hier nicht reinpassen.
Man wird sie irgendwo anders hinschieben.« Ich schauderte. Er sah mich an. »Ist Ihnen kalt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ihre Worte haben mir eine Gänsehaut verursacht.«
Trotzdem zog er seine Jacke aus und hängte sie mir um die Schultern. Einen Moment war ich überrascht über das prickelnde Gefühl, das mich durchströmte, als ich seine Hände auf meinen Schultern spürte. Es war so lange her, dass mich ein Mann berührt hatte.
21. KAPITEL
»Ich kann es noch immer nicht glauben.«
»Nein«, sagte ich lahm.
»Ich meine, normalerweise passiert so etwas doch nicht, oder? Nicht jemandem, den man kennt. Ich kann es einfach nicht fassen.« Sie wiegte ihren Kopf von einer Seite zur anderen, als hätte sie Wasser in den Ohren.
»Arme Philippa«, sagte sie.
»Mmm.«
»Und Jeremy. Und die arme, arme Emily. Was wird aus dem Kind werden? Wie kann ein Mensch nur so was tun?«
Da das nicht wirklich als Frage gemeint war, gab ich ihr keine Antwort. Stattdessen nippte ich an dem Kaffee, den sie für mich zubereitet hatte, und wartete. Tess Jarrett sah aus wie eine kleine, schimmernde Kastanie. Sie saß mit
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