Das rote Zimmer
angezogenen Knien in einem großen Sessel im Wintergarten ihres eleganten Hauses, klein und rundlich, ohne dabei plump zu wirken. Ihr Gesicht war von einer Fülle glänzender brauner Locken eingerahmt, sie hatte gesprenkelte braune Augen, honigfarbene Haut, einen kleinen Mund, strahlend weiße Zähne, kleine Hände mit perlmuttfarbenen Nägeln und gepflegte, in Sandalen steckende Füße. Sie war, wie sie selbst sagte, Philippas beste Freundin. Ihre allerallerbeste Freundin. Sie hatte vor Entsetzen und Aufregung ein rotes Gesicht.
»Wir waren unzertrennlich«, erklärte sie. »Erst recht, seit Emily und Lara geboren wurden. Sie sind fast gleich alt, müssen Sie wissen. Wir haben gleichzeitig zu arbeiten aufgehört und deshalb eine Menge Zeit miteinander verbracht.« Es war schwierig, sich Tess als Mutter vorzustellen, denn trotz ihrer zweiunddreißig Jahre wirkte sie so jung und mädchenhaft, als würde sie selbst jeden Moment den Daumen in den Mund stecken.
»Wie lange haben Sie sich gekannt?«
»Schon seit dem College.« Ihre Augen weiteten sich.
»Das bedeutet, ich kenne sie schon mein halbes Leben.
Kannte, besser gesagt. Es fällt mir schwer, mich daran zu gewöhnen.«
»Das ist auch schwer«, pflichtete ich ihr bei.
»Hinzu kam natürlich, dass wir seit unserer Heirat ziemlich nahe beieinander wohnten. Von Hampstead nach Belsize Park sind es zu Fuß gerade mal zehn Minuten. Wir haben uns mehrmals die Woche getroffen und sind zusammen einkaufen gegangen.« Sie zupfte an ihrem pastellfarbenen Baumwollkleid herum.
»Das haben wir erst vor zwei Wochen erstanden, für meinen Griechenlandurlaub mit Rick und den Kindern.
Rick und Jeremy verstehen sich auch gut. Der arme Jeremy.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Tess«, sagte ich in die anschließende Stille hinein,
»manchmal erfahren wir etwas über den Täter, indem wir möglichst viel über sein Opfer herausfinden. Deswegen bin ich hier.«
Sie nickte. Ihr Gesicht nahm einen tragischen Ausdruck an.
»Ja«, murmelte sie. »Ich weiß.«
»Ich brauche Sie nicht zu fragen, wo sich Philippa in ihren letzten Stunden aufgehalten hat. Das ist Sache der Polizei. Mich interessieren eher ihre Stimmungen, was in ihrem Leben so vor sich ging. Manchmal weiß eine Freundin darüber mehr als die Familie.«
»Ich habe alles über Philippa gewusst«, erklärte sie mit Nachdruck. »Wir hatten keine Geheimnisse voreinander.
Zum Beispiel« – sie senkte die Stimme und beugte sich vor – »habe ich ihr von den Problemen erzählt, die ich kurz nach Laras Geburt mit Rick hatte. Ich glaube, Männer haben Probleme, wenn ihre Frau ein Baby hat, meinen Sie nicht auch? Sie bekommen nicht mehr die ganze Aufmerksamkeit. Außerdem ist man als Frau oft müde, weil man nachts immer aufstehen und das Kind stillen muss. Da werden sie richtig eifersüchtig. Männer sind ja selbst wie Kinder, stimmt’s? Was wollte ich eigentlich gerade sagen? Ach ja, Rick wurde also recht aufbrausend und fordernd, Sie wissen schon, was ich meine, aber ich wollte nicht – na ja, jedenfalls habe ich Philippa davon erzählt. Es hat mir schon geholfen, einfach nur darüber zu reden. Philippa konnte sehr gut zuhören.
Sie war keine solche Quasselstrippe wie ich.«
Sie lachte. »Manchmal glaube ich«, fuhr sie fort, »dass wir deswegen so gute Freundinnen waren. Ich war die plappernde Extrovertierte, sie dagegen eher –« Sie hielt inne und sah mich stirnrunzelnd an.
»Ja?« Ich wollte nicht, dass Tess ausgerechnet jetzt, da sie endlich auf Philippa zu sprechen gekommen war, zu erzählen aufhörte.
»– eher jemand, der mehr am Rand der Dinge blieb, während ich immer direkt im Mittelpunkt sein muss.«
»Glauben Sie, dass sie das selbst so wollte? Am Rand stehen?«
»O ja, sie war sehr glücklich. Ich habe sie nie weinen sehen. Ist das nicht seltsam? Ich weine ständig. Ich weine, wenn ich mir mit Lara Dumbo oder Bambi ansehe, eigentlich bei jedem halbwegs kitschigen Film, oder wenn sie in den Nachrichten hungernde Kinder zeigen.
Manchmal muss ich sogar weinen, weil Lara weint, auch wenn sie es vielleicht nur deswegen tut, weil ich sie gescholten habe. Dann sitzen wir da wie zwei kleine Heulsusen. Mir kommen auch immer die Tränen, wenn sie irgendwas zum ersten Mal macht – als sie das erste Mal
›Mummy‹ sagte, bin ich aus dem Heulen gar nicht mehr rausgekommen. Blöd, nicht wahr? Ich weine, wenn ich glücklich bin, und ich weine, wenn ich traurig bin. Aber Philippa war nicht so. Nicht
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