Das sag ich dir
Verrückte wie sie. Sie konnte sich unzählige Identitäten mit unterschiedlichen Geschlechtern erschaffen. Fotos von körperlosen Genitalien wurden ausgetauscht, nachdem diese frei im Cyberspace flottiert waren. »Und wem gehören diese Eier?«, wollte ich wissen. »Sie sehen etwas merkwürdig aus mit dem Gesicht, das man daraufgekratzt hat.«
»Wen interessiert das? Die gehören vermutlich irgendeinem Mann, oder?«
Sie saß nur selten allein in der Küche. Entweder stand eines ihrer Kinder da und wartete auf eine Gelegenheit, zu Wort zu kommen, oder es war mindestens eine Nachbarin anwesend, meist mit Baby, der Miriam gute Ratschläge gab, in erster Linie medizinischer, juristischer, hellsichtiger oder religiöser Art. Der Tisch diente also in gewisser Weise als »Praxis«. Bushy Jenkins, der Mini-Cab-Fahrer, ihre rechte Hand, war von unbestimmbarem Alter, konnte aber eigentlich nur jünger sein, als er aussah - und er sah aus wie der todgeweihte Dylan, nicht Bob, sondern Dylan Thomas: rotbackig, puttenhaft und mit einer Haut, deren Textur und Farbe stellenweise an ein Tabakblatt erinnerte.
Bushy kannte ich nur im grauen Anzug, und man konnte wohl getrost davon ausgehen, dass er ihn nie auszog, geschweige denn reinigen ließ. Vielleicht wischte er hin und wieder darüber, wie man über eine Arbeitsplatte in der Küche wischt. Bushy verbrachte viel Zeit bei Miriam, er aß und trank bei ihr, nahm Anteil an dem, was mit den Kindern los war, den Tieren, darunter auch ein Piranha, und manchmal, wenn Miriam vom Stuhl gekippt war, legte er sich zum Schlafen auf den Fußboden.
Tatsächlich hatte Bushy kein Zuhause. Die meisten seiner Besitztümer bewahrte er im Auto auf. Er blieb bei Miriam, hatte dort aber weder Zimmer noch Bett. Ich bin immer daran interessiert, wie sich die Menschen auf ihr Traumleben und ihr Zubettgehen vorbereiten und wie ernst sie dies nehmen - sich hinzulegen und zu träumen. Doch Bushy schlief auf dem Küchenfußboden, gemeinsam mit den Katzen. Ich hatte ihn dabei gesehen, schnarchend und mit einen Sack unter dem Kopf. Miriam hatte oft behauptet, Bushy sei eine Art Genie auf der Gitarre, er spiele besser und ungewöhnlicher als jeder, den sie live gehört habe. Allerdings erzählte mir Bushy - als ich ihm vorschlug, er solle unsere Sorgen mit einer Melodie vertreiben -, dass er kein Instrument mehr angerührt habe, seit er nichts mehr trinke. Nüchtern könne er nicht spielen. Ich erwiderte, dass Menschen oft nichts richtig gut machen könnten, wenn sie sich nicht verloren genug fühlten, wenn sie nicht das Gefühl hätten, »verlassen« zu sein. »Ich bin verlorengegangen«, sagte er. »O ja. Und verlassen.«
»Dann wird dein Talent neu erwachen«, sagte ich.
»Weiß nicht, weiß nicht«, erwiderte er. »Meinst du echt?«
Die meiste Zeit kurvte Bushy Miriam und ihre Mannschaft durch die Gegend. Er fuhr Miriam - meist in Begleitung einer ganzen Karawane von Nachbarinnen, Kindern und Tieren - zu ihrer Wahrsagerin und zu ihrem Physiotherapeuten, ihrer Auraleserin und ihrem Zigarettenschmuggler, zum Tierarzt, zur Bowlingbahn oder zum Tätowierer. (Keines ihrer fünf Kinder durfte sich tätowieren lassen, doch aufgrund eines flüchtigen Interesses an der Pornographie - früher für kurze Zeit mein Job - wusste ich, dass Scarlett, die älteste und inzwischen schwangere Tochter, einen fliegenden Fisch auf der Innenseite eines Oberschenkels hatte.) Seit Miriam sich nicht mehr piercen ließ, war sie allerdings selbst zu einer wandelnden Illustration oder einem Wandgemälde auf zwei Beinen geworden, vor allem, da sie immer mehr in die Breite ging. »Mehr Bilder als die Täte«, pflegte ich zu sagen, wenn sie mir wieder einen neuen Fisch oder eine neue Flagge unten auf ihrem Rücken vorführte.
Bushy kutschierte Miriam auch zu den von ihr so genannten »Torturen«, den tagsüber laufenden TV-Shows, in denen sie oft auftrat und ihrer Meinung nach eine gewisse Berühmtheit genoss. Wenn es um Torturen ging, hatte sie ein dickes und kunterbuntes Portfolio von Klagen parat. Sie konnte an jeder Sendung teilnehmen, in der es um Gewichtsprobleme, Drogensucht, Missbrauch in der Familie, Tätowierungen, Teenager, Vergewaltigung, Wut, Rassenhass oder lesbische Liebe ging - oder um jede beliebige Kombination dieser Themen.
Wenn man wollte, oft auch, wenn man nicht wollte, zeigte sie einem Videos dieser Sendungen. Man hatte nicht den Hauch einer Chance, sich darüber lustig zu machen. Wenn ich über die ersten
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