Das sag ich dir
Wrap-around-Sonnenbrillen erzielen würde, die sie verhökerte.
Ich für meinen Teil pflegte im zeitgemäßen freudianischen Stil lieber Bescheidenheit. Ich würde nie behaupten, etwas »heilen« oder gar vorhersehen zu können. Wenn ich voreilig war, benutzte ich manchmal den Begriff »modifizieren« oder sprach etwas großspuriger davon, »die Fähigkeit des Patienten zur Freude durch den Abbau von Hemmungen zu vergrößern«. Doch unter dem Strich glaubte ich an die Wirksamkeit des Gesprächs - alles, was Freud von seinen Patienten verlangte, waren ungezähmtere Worte; sie sollten gar nicht anders leben - als eine Möglichkeit, verborgene innere Konflikte bloßzulegen.
Trotzdem raunte mir Bushy wie ein Geheimnis ins Ohr, dass Miriam zu mir aufschaue. Was möglicherweise daran lag, dass ihre Nachbarn inzwischen zu mir kamen, wenn sie Probleme mit ihren Kindern hatten -Ausschlag und Sucht, Phobien und Depressionen. Die Arbeiterklasse ist, was die seelische Gesundheit betrifft, immer am benachteiligtsten gewesen. Doch ich war gerührt, denn offenbar konnte ich Miriam wider Erwarten beeindrucken.
Als Kind war Miriam die Pest gewesen, cholerisch, herrisch, kreischend. Ein Mädchen, das behauptete, vernachlässigt zu werden, obwohl es im Mittelpunkt des Hauses stand und mich beiseitedrängte, oft handgreiflich. Eine Weile hatten wir uns allerdings gut verstanden.
Und zwar als Kinder, wenn wir im Schlafzimmer, das wir teilten, bis Miriam zehn Jahre alt war, Verschwörungen ausheckten. Mutter war nach oben in eine Abstellkammer gezogen, die wir »den Sarg« nannten. Miriam und ich spielten den Nachbarn Streiche, klauten Äpfel und durchstreiften auf der Suche nach Zoff gemeinsam die Felder. Wenn wir uns in die Wolle bekamen, nahm der Streit allerdings meist apokalyptische Ausmaße an, und sie zerkratzte mir wild das Gesicht. Selbst als Teenager war ich noch von Kratzern und Schnitten gezeichnet, und damals begann ich Miriam zu hassen, obwohl ich bei ihren Unternehmungen längst nicht mehr mitmachen konnte, weil sie zu erwachsen für mich waren.
Nun schien ich für Miriam also eine Art symbolischer Autorität zu sein. Glücklicherweise war diese Rolle wie die mancher Präsidenten rein formal und beinhaltete vor allem, dass ich mich setzte: In ihrem Haus war die Welt mein Sofa. Bis Henry auf der Bildfläche erschien, war Miriam immer nur mit dummen, brutalen oder drogensüchtigen Kerlen zusammen gewesen. Andererseits gab es in dieser Gegend nur wenige anständige Männer und überhaupt keine, die so sprachbewusst waren und so viel lasen wie ich. Wo steckten sie? Im Pub? Im Knast? Die Frage, wieso die Frauen und Mädchen dieses Viertels ständig schwanger waren, gab mir Rätsel auf. Diese Frauen, die eine Gesellschaft der Mütter und Babys bildeten, waren offenbar der Ansicht, die Männer ein für alle Mal loswerden zu müssen. Sie hätten sie mitsamt dem Sex, der für so viele Probleme sorgte, am liebsten abgehakt und komplett vergessen.
Hier hingen viele angeödete Halbstarke herum, mit weißen Sportschuhen, hochgegelter, glänzender Borstenfrisur und mit Metallreifen, die ihre Arme von den Ellbogen bis zu den Handgelenken bedeckten. Diese Reifen hatten sie zweifellos bei Miriam erworben, und wenn sie weiter mit Metall handelte, konnte sie bald ebenso gut eine Ritterrüstung tragen.
Gelegentlich glich ihre Küche einem Wartezimmer. Jungen, die sich in ihrer Gang sicher fühlten, aber keine Autoritäten kannten, die ihnen klarmachten, was gut und was schlecht war, warteten dann darauf, mit mir reden zu können, einem Teilzeit-Patenonkel aus der Vorstadt. Sie scharrten mit den Füßen, ihr Blick zuckte unruhig umher, sie brachten kaum ein Wort hervor: »Sir, wenn das okay ist, ich würd Ihnen gern sagen, die Tusse da ist schwanger ...« »Mister, ich hab da richtig fetten Mist gebaut...«
»Ich habe mit Dad geredet«, ließ Miriam mich wissen.
»Und? Wie geht es ihm?«
»Er braucht ein bisschen menschliche Wärme.« »Ist ziemlich einsam im Himmel, wie?«
»Manchmal schon. Weißt du, die Leute haben eine falsche Vorstellung davon.«
Da Miriam ihm auf dieser Welt nicht nahegekommen war, hoffte sie, in der »anderen« Dimension mehr Glück zu haben, und versuchte, dort Kontakt zu ihm aufzunehmen. Wir hatten beide unter recht absurden und unguten Umständen Abschied von ihm genommen, und sie wünschte sich immer noch seine Vergebung und sein Verständnis.
Miriam war zwei Jahre älter als ich. Vor ihrer Emigration
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