Das sag ich dir
Ruck. Ihr Mund stand offen, und ihre Augen weiteten sich. Wir musterten uns gegenseitig. Ich konnte spüren, wie sich unser jeweiliges Bild voneinander beim Aufeinanderprall von Phantasie und Realität neu zu ordnen begann. Wir waren beide keine Studenten mehr, ja, wir waren über das beste Alter hinaus.
Dann musste sie lächeln, und ich lächelte auch. Sie stand auf. Einer von uns beiden musste etwas tun. Wir küssten und umarmten uns und schwenkten uns gegenseitig durch das Zimmer, bis es uns peinlich wurde.
Ihr Bruder, zwar nicht der Einzige, der uns zusah, aber der schärfste Beobachter, stellte sich hinter uns und lehnte sich auf unsere Schultern, während wir uns tastend betrachteten.
»Meine süßen, allerliebsten Schätze, es tut mir leid, euch beiden verschwiegen zu haben, dass ihr euch heute Abend vielleicht wiederseht. Ich hatte Angst, dass einer von euch beiden abspringen könnte. War das ein Fehler?«
»Schwer zu sagen«, erwiderte ich. »Aber ich denke, wir werden gut miteinander auskommen.«
»Ja«, sagte Ajita. Sie wandte sich mit einem entschlossenen Lächeln zu mir um. »Und? Wo hast du gesteckt? Was hast du so getrieben?«
»Ziemlich viel, offen gestanden«, sagte ich. »Und das eine ewig lange Zeit.«
»Geht mir genauso«, sagte sie. »Ewig lange.« Wir nahmen unsere Gläser und stießen an. Sie lachte. »Früher hast du auch immer >offen gestanden< gesagt. Ich bin so froh, dass du dich nicht verändert hast.«
»Hast du dich verändert?«
»Ich nehme an, das wirst du bald merken«, antwortete sie, beugte sich zu mir und gab mir einen Kuss auf die Wange.
DREIUNDZWANZIG
Der Tisch war lang. Meiner Schätzung nach hätten dreißig Leute Platz daran gehabt. Anwesend war nur die Hälfte, doch es trafen immer noch Londoner ein, die hier den Abend oder das Wochenende verbringen oder am Essen teilnehmen wollten.
Karen saß Ajita gegenüber, und wie immer, wenn sie nervös war, redete sie ohne Unterlass. Was sie allerdings nicht davon abhielt, Ajita genauestens zu mustern.
Omar Ali kam auch und setzte sich neben mich. Charlie und Karim saßen weiter hinten mit Leuten am Tisch, die ich nicht kannte. Der Ritterschlag - diese Prothese für Menschen im mittleren Alter - wurde
diskutiert, und man fragte sich, ob es ratsam sei, ihn anzunehmen. Dann kam das Gespräch auf die Frage, ob Karim in der Show Ich bin berühmt - holt mich hier raus! mitmachen sollte.
Charlie sprach sich dagegen aus und meinte, Johnny Rotten hätte durch seine Teilnahme mehr als nur seine rätselhafte Aura verloren. Aber da Karim nach Auftritten in britischen Soaps in den USA gelebt hatte und im Übrigen meist Folterknechte oder Gefolterte in schlechten Filmen spielte, hatte er keine Aura zu verlieren. Charlie hatte natürlich schon abgelehnt, wusste aber nicht genau, ob er dies bereuen sollte oder nicht.
Ich betrachtete derweil Ajita. Wenn sie mir früher einen hatte herunterholen wollen, hatte sie zur Vorbereitung immer ihren Handteller abgeleckt, eine Geste, die mich unerhört erregt hatte. Und wenn wir danach in einem Seminar saßen, hatten wir einander kichernd diese Geste vorgeführt. Genau das tat ich jetzt, als sie sich mir
zuwandte. Sie begriff erst nicht, aber schließlich musste sie lachen und ahmte das lange vergessene Lecken der Liebe ebenfalls nach.
Nach dem Essen, als die meisten Gäste Kaffee tranken und am Brandy nippten, setzte sich Mustaq zu mir. »Komm mit«, sagte er. »Können wir ein bisschen reden?«
Wir gingen nach oben in ein großes Zimmer mit Blick auf Mustaqs Ländereien. Während er seinen Angestellten Anweisungen gab, fiel mir auf, dass auf einem Tisch an der Wand zahlreiche Fotos standen. Bei näherer Betrachtung stellte ich fest, dass sie nicht zeigten, was ich erwartet hatte: George mit Elton John, George mit Bill Clinton und Dolce und Gabbana, Bilder, wie sie von Menschen wie ihm zu Hause ausgestellt wurden. Nein, es waren Familienfotos, eingefrorene Augenblicke der Vergangenheit, und im ersten Moment fand ich das so unheimlich, dass ich selbst gefror. Als ich eines zur Hand nahm, merkte ich, dass Mustaq mich beobachtete.
»Das ist Mutter.« Er kam zu mir. »Bist du ihr je begegnet?«
»Sie war in Indien, als Ajita und ich zusammen waren. Ich wünschte, ich hätte sie kennengelernt.«
»Sie lebt noch, und sie ist immer noch schön, aber sie hat eine Stinklaune«, sagte er. »Sie hat mich hier ein paar Mal besucht.« Ein knappes Jahr nach dem Tod ihres ersten Mannes hatte sie in
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