Das sag ich dir
normal, wenn man plötzlich mit so etwas konfrontiert wird, oder? Für mich war es wie eine Explosion. Aber ich habe sie genau beobachtet, und sie war weder schockiert noch überrascht.«
»Weißt du, warum nicht?«
»Bitte?«
»Welche Art von Mann war dein Vater?«, fragte ich.
»Er war streng. Ja, sogar herrisch. Aus irgendeinem Grund hatte man immer Angst vor ihm. Aber er war nicht religiös und hat nie gebetet. Diese verrückten Mullahs und extremen Muslim-Faschisten hätte er verachtet. Zu Papas Lebzeiten waren intelligente Menschen der Ansicht, der Aberglaube würde aussterben. Natürlich hat er die Weißen gehasst, vor allem nach seinem Erlebnis mit dem Dokumentarfilm. Sie waren hinterhältig, und ihr Rassismus war tief verwurzelt.
Aber es stand etwas zwischen uns. Denn ich habe noch vor meinem elften Lebensjahr vermutet, dass ich schwul bin.«
»Wirklich?«
»Die anderen Jungs haben mich immer einen fetten Paki-Arsch genannt. Damit war wohl alles klar. Einer unserer Cousins hat Papa erzählt, dass ich Friseur werden wolle. Ich hätte einen weichen Händedruck. Er meinte, dass man alle Schwuchteln an die Wand stellen solle, und das hat mir klargemacht, dass er Homosexualität nicht nur für unannehmbar, sondern für ein Verbrechen hielt.
Du weißt vermutlich, dass ich in dich verliebt war und deine Besuche kaum erwarten konnte. Ich habe mich gefragt, was ich für dich anziehen sollte und wie du mich haben wolltest. Ich habe all die Bücher gelesen, weil ich glaubte, du könntest mich irgendwann abfragen. Gleichzeitig habe ich immer über Frauen geredet, wenn ich mit Papa allein war -nur, wenn wir Kricket oder Boxen gesehen haben -, und ihn um Rat gefragt: >Wie schafft man es, dass ein Mädchen nett zu einem ist? Soll man sie gleich bei der ersten Begegnung küssen? Was ist mit der Ehe -muss man das irgendwann ansprechen?< Er hat gern über solche Themen geredet, das wusste ich. Über diesen dummen, heuchlerischen Scheiß, den die Heteros über sich ergehen lassen müssen. Wie nennt man das doch gleich - Verführung? Lächerlich! Immerhin gab es meinem Vater das Gefühl, ein toller Hecht zu sein.« »Aber nie toll genug, oder?«
»Wie denn? Als wir in dem Haus gewohnt haben, musste er ständig dafür sorgen, dass die Produktion in der Fabrik weiterlief. Er hat immer gesagt, außer der Arbeit hätte er nur noch den Ehrgeiz, durch Afrika zu wandern. Aber der Streik hat ihn so belastet, dass er komische Angewohnheiten entwickelt hat.«
»Welche?«
»Er ist nachts durchs Haus gelaufen. Türen knallten, und ich habe Stöhnen, ja sogar Schreie gehört...« »Weißt du, warum?«
»Er hat getrunken. Und ist dann blau herumgetorkelt. Wenn er nach der Arbeit nach Hause gekommen ist, hat er eine halbe Flasche Jack Daniels gesoffen, und am nächsten Morgen hat er sie ganz geleert.
Wenn ich morgens die Tür geöffnet habe, lag er auf dem Fußboden. Ich hatte Angst, aus meinem Zimmer zu gehen. Ajita und ich mussten ihm Bademantel und Pyjama ausziehen und ihn unter die Dusche schleifen. Für Ajita war es besonders schwer, denn sie musste alles tun.« Er wischte sich über die Augen. »Hat sie dir davon erzählt?« »Ein wenig.«
»Bevor ich zur Schule ging, habe ich die Flasche entsorgt. Kein Wunder, dass ich nichts gelernt habe. Für Ajita war es aber noch schlimmer.«
»Warum denn?«
»Ajita hat ihren Vater angehimmelt, Jamal. Ich kenne keine zwei Menschen, die enger miteinander gewesen wären. Als Mädchen hat sie vor der Tür darauf gewartet, dass er nach Hause kam. Abends hat sie sein Haar geölt und gekämmt, während Mum gekocht hat. Sie hat seinen Rücken massiert, und sie hat ihn in der Badewanne gewaschen. Er hat ihr dabei Geschichten über Indien und Afrika erzählt. Ich habe für ihn gar nicht wirklich existiert. Nach seiner Ermordung hat Ajita drei Monate lang kaum ein Wort gesprochen. Ich habe nie mehr jemanden erlebt, der so am Ende gewesen wäre.«
»Und eure Mutter war schon verschwunden.«
»Ja.«
»Hatte sie euren Vater verlassen?«
»Davon war nie die Rede«, sagte er. »Aber wie hätte sie mit ihm zusammenleben können? Ihrer Meinung nach war er ein Versager. Er hat immer geglaubt, dass sie zurückkehren würde, sobald er genug Geld verdiente. Eines Tages würden wir keine Sorgen mehr haben, weil wir dann reich wären, hat er oft gesagt. Bis das geschafft war, hatten wir aber keine Zeit für anderes, ob Sport, Kultur oder Natur - selbst für die Liebe nicht. Er wusste nicht einmal, was
Weitere Kostenlose Bücher