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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanif Kureishi
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Revolutionäre angehimmelt, jeden, der den Mut zum authentischen Handeln hatte. Und wir waren nicht die Einzigen. Nietzsche, Sartre und Foucault – der die iranische Revolution idealisiert hat - waren unsere Vorbilder. Aber jetzt kann ich in alledem nichts Großartiges mehr sehen.
    Netterweise werden die Kriege immer weit weg geführt. Aber erinnerst du dich noch an den Falklandkrieg und daran, wie der Chauvinismus damals dieses Land verpestet hat - die mit Flaggen drapierten Pubs, die Wirte, die große Töne gespuckt haben? Aber das hier ist schlimmer. Ich bin genauso verwirrt und desillusioniert wie du, Jamal. Sind wir denn nicht mit den radikalen Bewegungen der Dritten Welt aufgewachsen, von Afrika bis Südamerika? Und jetzt bringen uns diese Rebellen, Unterdrückten und ultrarechten Religiösen um! Hast du nicht auch manchmal das Gefühl, nicht zu wissen, was auf der Welt passiert?
    Wie soll ich aufhören, an das Grauen dieser von Bomben zerfetzten Züge zu denken, an die verstümmelten Körper, die Schreie, das Weinen und Stöhnen, die in meiner Phantasie in das teuflische Gemetzel an Zivilisten in Bagdad übergehen - abgerissene Köpfe, ausgeweidete Kinder, Gliedmaßen, die in die Bäume geschleudert worden sind. Konnte denn nur Goya dieses Grauen ermessen? Warum lassen wir all das geschehen?«
    Er wollte irgendetwas tun. Henry und Miriam hatten vor, die Eltern der Pantoffel-Frau auf dem Land zu besuchen, falls Sam dies erlaubte. »Wir werden gemeinsam mit ihnen weinen«, teilte Miriam mir mit. »Begleitest du uns?«
    »Ich weine ja schon jetzt.«
    In der Woche nach den Anschlägen bestand Henry darauf, dass ich ihn auf seinen langen Wanderungen durch die chaotische, fast apokalyptische Stadt begleitete, bei denen er Fotos schoss und andere Menschen betrachtete, die ebenfalls verängstigt, ratlos, wütend waren. Polizeifahrzeuge und Rettungswagen rasten durch die Straßen. Patienten kamen spät oder gar nicht. Umherzulaufen war unangenehm und erforderte ein dickes Fell. In den Bahnhöfen und vor den U-Bahn-Stationen waren Polizisten mit Schutzausrüstung und Maschinenpistolen aufmarschiert, die Figuren aus einem Videospiel glichen.
    Wenn ich die U-Bahn-Züge mit einem Rucksack betrat, konnte ich merken, dass ich misstrauisch beäugt wurde. Es war jedes Mal höchst unterhaltsam, wenn ich ihn öffnete, um mein Buch herauszuholen. Dunkelhäutige Menschen wurden willkürlich gefilzt; ein Unschuldiger wurde durch eine U-Bahn-Station gejagt und von unseren Beschützern aus nächster Nähe mit Schüssen - waren es sechs, sieben oder acht? - in den Kopf getötet. Alle hatten Angst, die Patienten waren verstört. Wenn es draußen knallte, zuckten sie auf der Couch zusammen.
    Nicht, dass mir irgendwelche Anzeichen von Hass oder gar Feindschaft aufgefallen wären. Man steckte keine Moscheen in Brand, die von der Polizei bewacht wurden, und man griff auch keine Muslime an. Anders als in den USA gab es auch keine Flaggen. Die Stadt war weder vereint noch gespalten. Bombenattentate weckten nicht den britischen Patriotismus. Die Londoner waren auf kluge Art zynisch und hatten längst geahnt, welchen Preis sie für Blairs tödliche Leidenschaft für Bush am Ende bezahlen würden. Sie würden warten, bis Blair zurücktrat - nach unzähligen weiteren Toten -, und dann würden sie ihn vergessen.
    Henry regte sich maßlos darüber auf, dass Blair jeden Zusammenhang zwischen seinen eigenen »massiven Gewaltakten« und der mörderischen Vergeltung abstritt und keine Verantwortung für sein Tun übernehmen wollte. Henry nannte das »moralische Kindsköpfigkeit«. Der Versuch von Bush-Blair, einen »virtuellen« Krieg zu führen, der auf der eigenen Seite keine Opfer forderte, hatte sich als Fehlschlag erwiesen, und die Pantoffel-Frau war gemeinsam mit vielen anderen Menschen ums Leben gekommen. Eigentlich hatte Henry die Politik abgehakt und sich wieder an seine Arbeit machen wollen, aber während dieser Zeit ließ uns die Politik nicht los. In unserem Bekanntenkreis redeten alle über heikle und abstrakte Fragen und diskutierten über Religiosität, Liberalismus und Integration.
    Doch die Person, deren Verhalten sich am grundlegendsten veränderte, war merkwürdigerweise Ajita.
    Mustaq, nach London zurückgekehrt, hatte mir durch seinen Sekretär mitteilen lassen, dass er sich freuen würde, wenn ich nach Soho käme. Er ließ mich von einem Auto abholen und in der Dean Street absetzen, wo er mich erwartete. Dabei fiel mir ein, dass

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