Das sag ich dir
seiner rührenden Begeisterung und dem Glauben an die Chancen und die Gleichheit in diesem Land. Ein Mann, der von seiner Familie erzählte und in England Erfolg haben wollte.
Im Hintergrund einer jener Aufnahmen, die in der Fabrik gedreht worden waren, konnte ich Ajita und Mustaq sehen - noch nicht einmal zwanzig Jahre alt -, die sich mit einem Angestellten unterhielten. Und dann wandte sich der Vater der Kamera zu und schien mir unschuldig in die Augen zu blicken, seinem Mörder - als wüsste er schon, dass ich ihm auflauerte.
Die Falle hatte funktioniert. Das Bild hatte sich eingetrübt und war schwarz geworden, bis ich glaubte, der Fernseher hätte einen Defekt. Doch der Defekt lag in mir. Ich hatte es nicht mehr ertragen.
Lucy und ich schliefen schon fast, als die Wuchtbrumme in das Zimmer stampfte. Sie erkannte mich und schlug einen milderen Ton an. »Aber das ist doch kein Bumslokal hier«, sagte sie, als wir nach unten eilten.
»Nein«, erwiderte ich verschlafen. »Denn dort würde man wenigstens den Preis kennen.«
TEIL VIER
ZWEIUNDVIERZIG
»Was ist denn passiert?«, fragte ich am Telefon. »Etwas Schlimmes?«
Es habe einen »allgemeinen Kurzschluss« gegeben, erzählte mir eine Patientin, die anrief, um mir zu sagen, dass sie zu spät komme. Das U-Bahn-System sei zusammengebrochen, und die Busse würden auch nicht mehr fahren. Die ganze Stadt sei zum Stillstand gekommen. Offenbar herrschte draußen das blanke Chaos.
Zwischen meinen Terminen saß ich vor dem Fernseher und wartete auf Neuigkeiten. Die Wahrheit kam sehr langsam ans Licht, aber später am Tag erfuhren wir sie: Vier Bomben, in Nahrungsmittelbehältern aus Plastik in Rucksäcken versteckt, waren mitten in London von Selbstmordattentätern gezündet worden, drei in der U-Bahn und eine im Bus am Tavistock Square. Die genaue Zahl der Toten und Verletzten war noch nicht bekannt.
An jenem schönen Londoner Platz hatten Ajita, Valentin und ich viele Philosophievorlesungen besucht. Wir hatten dort im Gras gelegen, Wein getrunken, Sandwichs gegessen und über die Macken der Dozenten geredet. Dort hatte Dickens Bleak House geschrieben und Woolf Three Guineas; dort hatte Lenin gewohnt, und die Hogarth Press, angesiedelt im Keller der Nummer 52, hatte James Stracheys Übersetzungen von Freud veröffentlicht. Außerdem gab es eine Plakette, die Kriegsdienstverweigerern des Ersten Weltkriegs gedachte, eine weitere für die Opfer von Hiroshima und eine Statue von Gandhi.
Meine Patientin nannte die Anschläge »Unser 9/11«. Die Krankenhäuser begannen, die Legionen von Verletzten aufzunehmen, während unter der Stadt unbeschreibliche Infernos tobten. An jenem Tag und in jener Nacht sahen wir Fernsehbilder von verrußten, verletzten Gestalten mit blutigen Gesichtern, unschuldige Opfer, die man durch dunkle, verheerte Tunnel unter den Bürgersteigen und Straßen führte, während andere schrien. Wer waren diese Menschen? Waren Bekannte darunter?
Zwei Tage später erfuhr ich, dass die Pantoffel-Frau - mit der sich Sam, Henrys Sohn, immer noch gelegentlich traf - bei der Explosion der Bombe in King's Cross getötet worden war.
Henry hing ständig am Telefon. Die kleine Leidenschaft, die ich für die Pantoffel-Frau gehegt hatte, war zwar unwichtig, und ich verschwieg sie, ging in Gedanken aber immer wieder unseren gemeinsamen Abend durch. Henry bestand darauf, dass wir zusammen zum »Cross« gingen, um dort Blumen niederzulegen. »Oh, England, England«, stöhnte er. Diese Worte hatte er noch nie unironisch ausgesprochen. Er war sehr düster und verzweifelt wegen der vielen Toten, aber auch wegen Lisas Einstellung.
»Ihre Meinung dazu finde ich unsäglich.«
»Was sagt sie denn?«
»>Wie kann ein junger, wortgewandter Kerl aus gutem Haus, jemand, der intelligent ist, eine gute Ausbildung erhalten hat und dem alle Möglichkeiten offenstehen, zu einem Berserker werden, der Tausende von Leben vernichtet? Ich meine natürlich Tony Blair.<« Er fuhr fort: »Vermutlich ist das der erste Witz, den sie je gemacht hat. Davon abgesehen jubelt sie fast über diese Bombenattentate. Sie will sie nicht nur vorhergesagt haben, sie betrachtet sie nicht nur als gerechte Sühne, nein, sie bildet sich auch noch ein, dass Bush-Blair endlich seine Lektion gelernt hätte. Und wenn er sie nicht gelernt haben sollte, wird es noch mehr Bomben geben, sagt sie.
Aber ich sehe das anders, Jamal. Damals, als wir noch jung oder auch nicht mehr ganz so jung waren, haben wir die
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