Das sag ich dir
gearbeitet, die Schichten unter den Gletschern der vereisten Vergangenheit ausgelotet: der Hass, den Miriam verständlicherweise in unserer Kindheit auf mich gehabt hatte, ihre kreischende, psychische Gewalt und ihr Versuch, Mutter von mir fernzuhalten und ganz für sich zu haben. Mein Gefühl, allein und von beiden Eltern verlassen worden zu sein, Kafkas verletzter Käfer, der sich unter dem Bett verkroch.
Doch eines Tages sagte Tahir nach langem Schweigen: »Wollen Sie mir noch etwas erzählen?«
Das war es! Er schien zu wissen, dass ich das Wichtigste bislang ausgespart hatte.
Ich hatte nicht nur die Fähigkeit verloren, glücklich zu sein. In Wahrheit hatte ich einen Mann ermordet. Nicht in der Phantasie, sondern in der Realität, und das vor nicht allzu langer Zeit. Am Ende blieb nur eine Frage, an der ich Tahir Hussein messen konnte: War er vertrauenswürdig oder würde ich im Gefängnis landen? Ich hatte mein Geheimnis für mich behalten, obwohl ich in den schmierigen Pubs, die ich meist abends nach der Arbeit aufsuchte, manchmal in Versuchung geriet, die Sache irgendeinem Volltrunkenen anzuvertrauen, der sie am nächsten Morgen wieder vergessen hätte. Doch ich war klug genug, um zu wissen, dass dies mein Verlustgefühl nicht gelindert hätte.
So billig würde mich der Ermordete nicht davonkommen lassen. Er klammerte sich an mich, seine Fingernägel bohrten sich in mein Fleisch. Beim Erwachen starrte ich in seine Augen, in denen Angst und Ausweglosigkeit flackerten. Die Vergangenheit ritt wie ein Teufel auf meinem Rücken, peitschte mich voran, hielt mir Augen und Ohren zu und sorgte dafür, dass ich sie keine Sekunde vergaß, während ich keuchend weiterrannte. Die Welt ist, wie sie ist. Was uns in Angst und Schrecken versetzt, sind unsere Phantasien. Sie sind das Problem.
Ich bekam das Gefühl, als wäre mein Geist ein fremdes Ding in meinem Schädel. Am liebsten hätte ich ihn herausgerissen und von einer Brücke geschmissen. Bücher konnten mir nicht helfen, auch nicht Drogen oder Alkohol. Ich konnte mich nicht befreien, indem ich mit meinem Geist an meinem Geist arbeitete. Ich dachte: Lege Feuer an das Zündpapier und warte ab. Wird es mein Leben in die Luft jagen oder in den Tiefen meiner auf Eis gelegten Geschichte endlich für eine Explosion sorgen? Und - konnte ich mich auf einen anderen Menschen verlassen?
Schließlich ging es nicht mehr anders - ich musste das Richtige tun. Ich würde mich Tahir Hussein auf Gedeih und Verderb ausliefern und die Folgen ausbaden. Nach diesem Entschluss erzählte ich ihm eines Morgens die Wahrheit. Wie sollte die Analyse je funktionieren, wenn ich ein so entscheidendes Ereignis verschwieg? Also erfuhr Tahir von den körperlichen Symptomen, dem Zittern und der Paranoia; er erfuhr, dass ich von sterbenden Augen träumte, die mich anstarrten. Er erfuhr von Wolf, Valentin und Ajita. Er erfuhr von dem Tod.
»Was meinen Sie?«, fragte ich.
Er sagte spontan, dass manche Leute einen Schlag auf den Kopf verdient hätten. Ich habe der Welt einen Dienst erwiesen, indem ich dieses Schwein, dessen Schlechtigkeit jedes Fassungsvermögen übersteige, ins Jenseits befördert habe. Ich würde trotzdem ein menschliches Wesen bleiben. Es sei nur ein »kleiner« Mord. Offenbar hatte er nicht den Eindruck, dass die Sache zur Gewohnheit werden oder dass ich als Profikiller enden könnte.
Es war eine große Erleichterung, dass ich mein Geheimnis gelüftet hatte und gleichzeitig sicher verwahrt wusste! Tahir war in Sorge, dass ich versucht sein könnte, ein Geständnis abzulegen und mich verhaften zu lassen - wegen meines Bedürfnisses nach Bestrafung und dem Wunsch nach Ruhm. Das Verbergen sei immer auch ein Enthüllen. Die meisten Mörder, sagte er, würden die Polizei von sich aus zum Ort des Verbrechens führen, so besessen seien sie von ihrem Opfer. Raskolnikow etwa kehrte nicht nur zum Ort der Tat zurück, sondern wollte auch noch ein Zimmer im »Haus des Mordes« mieten.
Tahir war der Einzige, dem ich davon erzählte. Damals war ich verzweifelt, und nun ist Tahir tot und hat das Geheimnis, das nie ans Licht kommen wird, mit in sein Grab genommen - das Geheimnis, das meine Seele so lange faulen ließ, bis ich an mir verzweifelte. Den zwei anderen Analytikern, die ich nach Tahir aufsuchte, verschwieg ich die Sache. Denn sie hätte meiner Karriere schaden können.
Ein Jahr nach dem Beginn der Analyse hatte ich Tahir gesagt, dass ich gern seinen Beruf ergreifen würde. Und
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