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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanif Kureishi
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warum? Von Kindesbeinen an, schon damals, als ich mit Mutter auf der Straße Bekannten begegnet war, wollte ich den Tratsch hören, der, wie ich später begriff, den Königsweg in das Innerste der Menschen darstellte. Nicht unbedingt zu ihren Geheimnissen, obwohl diese natürlich dazugehörten, sondern zu dem, was sie innerhalb eines Familiengefüges geprägt und beschädigt hatte.
    Schon bald reichten mir die alltäglichen Gespräche nicht mehr, die typisch für das Leben in den Vororten waren. Ich wollte das Ernsthafte, das »Tiefe« . . Auf Nietzsche und Freud kam ich durch Schopenhauer, dessen zweibändiges Werk Die Welt als Wille und Vorstellung mich an der Universität so gut unterhalten hatte. Damals hatte ich mir diesen Absatz notiert: »Allein schon die Befriedigung des Geschlechtstriebes geht über eine Bejahung der eigenen Existenz, die eine so kurze Zeit füllt, hinaus, bejaht das Leben über den Tod des Individuums, in eine unbestimmte Zeit hinaus. (...) Das eigene Bewusstseyn, die Heftigkeit des Triebes, lehrt uns, dass in diesem Akt sich die entschiedenste Bejahung des Willens zum Leben (...) ausspricht.«
    Ich hatte mich als jemanden gesehen, der vorhatte, Künstler, Schriftsteller, Filmregisseur, Fotograf oder meinetwegen (das war der Notnagel) Akademiker zu werden. Ich hatte Bücher, Lieder und Gedichte geschrieben, aber sie waren nie wirklich die Erfüllung gewesen, die ich gesucht hatte. Wie sollte man seinen Lebensunterhalt mit dem Verfassen von Haikus bestreiten? Außerdem hatten mich immer Menschen mit einem breiten Allgemeinwissen beeindruckt. Wenn meine Mutter und ich Quizsendungen guckten, das Einzige, was wir gemeinsam taten - am besten gefiel uns University Challenge -, sagte sie oft: »Das könntest du auch wissen. Diese Leute sind nicht halb so klug wie du, und schau dir an, was sie für Kleider tragen!«
    Ich hatte diverse Berufe erwogen, ohne mich für einen davon begeistern zu können. Trotzdem hatte es in meinem Inneren unbewusst gearbeitet. Mein Besuch bei Dad in Pakistan, in vieler Hinsicht katastrophal und bedrückend, hatte mir eine Art Public-School-Ethos vermittelt. Der Sinn für die Familie samt ihrer Geschichte und Leistungen - meine Onkel waren Journalisten gewesen, Sportler, Armeegeneräle, Ärzte - und die Aussicht auf mühelos errungene Erfolge waren, wie ich nun feststellte, sowohl ermutigend als auch einschüchternd gewesen. Ich war nicht einfach nur ein »Paki«, und anders als Miriam hatte ich plötzlich einen Namen und eine Herkunft sowie die damit einhergehende Verantwortung.
    Mir dämmerte langsam, dass ich nicht nur intelligent war, sondern auch eine Möglichkeit finden musste, um diese Intelligenz nutzen zu können; das hatte mit Familienehre zu tun, eine Idee, die ich früher absurd gefunden hätte. Tahir war es, der die Puzzleteile für mich zusammensetzte. Ich zögerte sehr lange, bevor ich die Sache an ihn herantrug, denn ich befürchtete, er könnte glauben, ich wollte ihm seinen Platz streitig machen.
    Doch schließlich wagte ich es. »Was meinen Sie?«, fragte ich. »Könnte ich das schaffen?«
    »Sie werden genauso hervorragend sein wie wir alle«, antwortete er.
    Während des ersten Jahres meiner Analyse sah ich Mutter und Miriam nur selten. Ich versuchte sogar, ihnen aus dem Weg zu gehen, weil ich sowohl mit ihren Streitereien als auch mit ihrer Nähe überfordert war. Ich begehrte sie beide auf eine jeweils andere Art, und ohne Vater fiel es mir schwer, sie auseinanderzuhalten.
    Doch als Miriam vorschlug, unsere Mutter an Weihnachten zum Mittagessen zu besuchen, konnte ich nicht ablehnen. Außerdem wollte ich Miriams erstes Kind sehen, ein süßes Baby, das sie einem Taxifahrer zu verdanken hatte, in dessen Wagen sie eines Abends gestiegen war, ohne das Geld für die Fahrt zu haben. Nun lebte sie, schon wieder schwanger, mit dem Kind in der obersten Etage einer Sozialsiedlung, und der einzige Erwachsene, der ihr Gesellschaft leistete, war ein brutaler Typ. Die meiste Zeit war sie zugedröhnt, und für Abwechslung sorgten nur ihre Aufenthalte in der Psychiatrie. Später zog sie mit dem Argument in die Vororte Londons, sie dürfe nicht zu weit oben wohnen, weil sie von Stimmen gedrängt werde, sich in die Tiefe zu stürzen, wenngleich diese Stimmen, wie Mum bemerkte, nicht laut genug waren.
    Beim Nachtisch fragten mich die beiden, ob ich im Museum bleiben wolle, vielleicht als Ausstellungsstück. Ich erwiderte: »Nicht auf unbestimmte Zeit.« Ich hatte

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