Das sag ich dir
losziehen, um etwas zu essen und Gesellschaft zu haben, und seit ich Single bin, muss ich dafür zu Miriam fahren.
Rafi kommt herein, um ein Glas Saft zu trinken, und wir tauschen CDs. Auf dem Weg zu Miriam kommen wir dann an Josephines Haus vorbei - von dort ist er gerade zu mir aufgebrochen - und werden langsamer. Josephine und ich sind seit achtzehn Monaten getrennt. Die gemeinsame Freude am Kind war der Kitt unserer Ehe. Außerdem graute mir vor einsamen Abendessen vor der Glotze, und manchmal hatte uns auch das Problem gefallen, das wir füreinander waren. Aber schließlich war der Punkt gekommen, an dem wir nicht einmal mehr durch die Straße gehen konnten, sie auf der einen Seite, ich auf der anderen, ohne uns quer über die Fahrbahn Vorwürfe zuzubrüllen. »Du hast mich doch gar nicht geliebt!« »Du warst grausam!« Das Übliche. Sie wollen ganz bestimmt nichts davon hören, aber das werden Sie, das werden Sie.
Ich bezweifelte, dass sie zu Hause war. Vermutlich war noch nicht einmal Licht an, denn inzwischen war sie wieder liiert. Das hatte ich messerscharf aus der Tatsache geschlossen, dass Rafi vor einigen Wochen in einem neuen Arsenal-Shirt mit dem Schriftzug »Henry« hinten darauf bei mir erschienen war. Er wirkte zerknirscht, und ich musste ihn nicht extra darauf hinweisen, dass mein Sohn mit einem solchen Shirt niemals die Schwelle meines Hauses überschreiten durfte. Wir hatten ehrenwerte und absolut einleuchtende Gründe dafür, Fans von Manchester United zu sein - davon später mehr -, und er tauschte das Shirt gegen ein annehmbareres Giggs-Hemd ein, das er in seinem Zimmer gelassen hatte. Keiner von uns beiden erwähnte je wieder das Arsenal-Shirt, und es kamen auch keine neuen Fan-Artikel dieses Clubs hinzu. Der Junge liebte seinen Vater zwar, aber fraglich blieb, ob er der Versuchung widerstanden hätte, gemeinsam mit einem fremden Kerl, der scharf auf seine Mutter war, einen Ausflug nach Highbury zu unternehmen. Wir würden ja sehen.
Wir wussten beide, dass seine Mutter ihn aus dem Weg haben wollte, um ihren Freund treffen zu können. Das waren die Momente, wenn wir uns verlassen und heimatlos fühlten. Ich vermute einmal, dass wir beide
überlegten, was sie wohl tat, wenn sie bei ihrem neuen Liebhaber war, und dass wir beide an die Hoffnung und das Glück dachten, das nichts mit uns zu tun hatte.
Wie hätten wir es uns da verkneifen können, im Vorbeifahren einen Blick zu riskieren? Ich habe sie immer vor Augen, wie sie auf der Treppe des Hauses steht, hochgewachsen, reglos und unnahbar, als hätte sie ihr Ich an einem sehr fernen Ort versteckt, wo es niemand finden konnte. Als wir uns damals kennenlernten, war sie dreiundzwanzig, und meine Leidenschaft und ihre jugendliche Schönheit machten mich verrückt. Damals sah sie aus wie ein Teenager, und genau das war sie auch geblieben. Unruhe und Umtriebe der Welt waren ihr so gleichgültig, als hätte sie all das längst erlebt, als hätte sie alles so lange ausprobiert, bis es nichts mehr zu tun gab, nichts mehr gab, woran man noch hätte glauben können.
In erster Linie war sie mit »Wehwehchen« beschäftigt - mit Krebs, Tumoren, Krankheiten. Ihr Körper war permanent in der Krise und stand immer kurz vor dem Zusammenbruch. Sie betete die Ärzte an: Ein Esel mit einem Abschluss in Medizin war ein Zuchthengst für sie. Im Grunde ging es ihr jedoch darum, die Ärzte zu frustrieren, wenn nicht gar in den Wahnsinn zu treiben, wie ich zu meinem eigenen Leidwesen erfahren musste. Ihre Berufung war die aussichtslose Suche nach Therapien. Anfänglich behandelte Freud hysterische Frauen, und eine der ersten Erkenntnisse, die er über sie gewann, lautete wie folgt: »Es besteht nur eine sozusagen symbolische Beziehung zwischen der Veranlassung und dem pathologischen Phänomen, wie der Gesunde sie wohl auch im Traume bildet.« Josephine träumte im Wachen, aber auch ihre Abenteuer als Schlafwandlerin waren bizarr - auf den Ausflügen, die sie aus dem Haus in die Nacht unternahm, rannte sie mit dem Kopf gegen Bäume. Wenn man einen Menschen liebt, dem es schlecht geht, muss man sich natürlich immer wieder fragen: Liebe ich sie, oder liebe ich ihre Krankheit? Oder anders: Bin ich ihr Liebhaber oder ihr Medizinmann?
»Okay?«, fragte ich, als Rafi gesehen hatte, dass sie schon weg war. »Ja.«
Die Fahrt zu meiner großen Schwester dauerte zwanzig Minuten. Rafi, viel geschickter mit der Technik als ich, holte im Auto eine silberne CD aus seiner
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