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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanif Kureishi
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es nicht lange, bis ich ihm jene Frage stellte, vor der ich mich am meisten gefürchtet hatte. Warum war er nicht bei uns geblieben? Wieso war er hierhergekommen? Weshalb waren wir nie eine richtige Familie gewesen?
    Er wich der Frage nicht aus, sondern ging sie so direkt an, als hätte er sie seit Jahren erwartet und wäre darauf vorbereitet. Abgesehen von den »Problemen«, die er mit Mutter hatte - das übliche Zeug zwischen Mann und Frau, zu dem ich nur ernst mit dem Kopf nicken konnte, als würde ich kapieren -, habe es eine Beleidigung gegeben, sagte er. Er habe Mum gemocht, ja, er achte sie immer noch, sagte er. Ich fand es komisch, dass er von ihr sprach wie von einer Verflossenen, die ihm nach all den Jahren nichts mehr bedeutete.
    Ich erfuhr allerdings, dass er parallel zu Mum für kurze Zeit eine weitere Freundin gehabt hatte, deren Eltern ihn zum Dinner in ihr Haus in Surrey eingeladen hatten. Als sie beim Essen saßen, sagte die Mutter: »Oh, Sie können mit Messer und Gabel umgehen? Ich dachte, Leute wie sie würden die Finger benutzen.«
    Das sagte sie zu einem Mann, der während der Kolonialzeit in einer reichen, liberalen indischen Familie aufgewachsen war. Vater war unter allen Geschwistern der Prinz gewesen, Erbe der besten Eigenschaften der Familie. »Ist er nicht ein großartiger Mann?«, fragte mich Yasir. »Dein Großvater hat mir eingeschärft, immer gut auf ihn achtzugeben.«
    Dad hatte sein Studium in Kalifornien absolviert, wo er sich im Debattierreigen der Colleges bald einen Namen als Redner und raffinierter Frauenverführer erworben hatte. Er glaubte, das Talent und die Klasse für ein Ministeramt in der indischen Regierung, einen Botschafterposten in Paris oder New York, für eine Position als Zeitungsherausgeber oder zum Kanzler einer Universität zu besitzen. Dad erzählte mir, dass er die Ressentiments, wie man das damals nannte, nicht mehr ertragen habe. Er war »ausgestiegen« und in das Land heimgekehrt, das er nie gekannt hatte, um bei der Geburt des neuen Staates dabei zu sein und das Abenteuer zu erleben, ein »Pionier« zu sein.
    Wenn wir durch Karatschi fuhren - er wirkte winzig hinter dem Lenkrad -, begann er zu weinen, dieser saubere Mann in weißem Salwar und Kameez, mit Sandalen und einer Fahne, an die ich mich bald gewöhnte, ja, die ich irgendwann sogar mochte. Er bedauere es, sagte er, dass wir nie als Familie zusammengelebt hätten und dass er seine Pflichten als Vater nicht habe erfüllen können. Mutter wolle nicht in Pakistan leben, und er halte es in England nicht aus.
    Wenn er uns in Großbritannien gelassen habe, fügte er hinzu, dann sowohl um seinet- als auch um unseretwillen. Es liege ja auf der Hand, dass wir dort bessere Chancen hätten. Im Grunde genommen, sagte er, hätte seine Familie niemals von Indien nach Pakistan ziehen dürfen. Sein Herz gehöre Indien, seiner wahren Heimat. Dort seien er und Yasir und alle seine Brüder und Schwestern aufgewachsen, in Bombay und Delhi, und dort hätten wir zu ihnen stoßen können.
    Inzwischen hatte er begriffen, dass er seine Ideale eher in Bombay als in Karatschi hätte verwirklichen können, egal wie verrückt jene Stadt auch sein mochte. In Pakistan hatte man alles vermurkst. Er gestand, dass man dies nach einer flüchtigen Lektüre der Geschichtsbücher hätte vorhersagen können. Jeder Staat mit einer religiösen Grundlage - dem Glauben an einen alleinigen Gott - war irgendwann zu einer Diktatur geworden. »Voltaire hätte das vorhergesehen, Junge. Du kannst ihn aufschlagen, wo du willst, und du wirst es lesen.«
    Er fuhr fort: »Liberale wie ich sind hier die Ausnahme . Man nennt uns die >Generation Suff-und-Zoff<. Besoffen sind wir ziemlich oft, aber Zoff zu machen ist hier fast unmöglich. Wir laufen durch die Stadt, um einander zu suchen und zu reden. Alle jungen Leute, die etwas auf dem Kasten haben, wandern aus. Deine Cousins werden nie eine Heimat haben, sondern für immer durch die Welt irren. Und derweil werden die Mullahs die Macht ergreifen. Darum baue ich meine Bibliothek auf.«
    Mehrmals in der Woche trafen Bücherpakete aus England und den USA in Papas Wohnung ein. Dad packte nicht alle aus, doch wenn er dies tat, stellte ich fest, dass er viele der Bücher bereits besaß, allerdings in älteren Ausgaben. Papa richtete mit Yasirs Geld eine Bibliothek im Haus eines wohlhabenden Anwalts ein. Auf das Land war eine solche Dunkelheit niedergegangen, dass der Bewahrung jeder Art von kritischer Kultur

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