Das sag ich dir
Wittgensteins Spätwerk schreiben. Das erzählte ich jedem, der mich nach meinen beruflichen Zielen fragte, also auch Papa. Er konnte sich mit mir brüsten oder den Fragestellern wenigstens den Mund stopfen. Immerhin hatte ich meinen Abschluss in Philosophie mit »summa cum laude« gemacht - was immer das heißen mochte.
Dies diente allerdings nur dem Abwiegeln von Fragen, und das wusste Dad. Unter vier Augen bezeichnete er mich ab und zu als »Trottel«, und wenn er besonders stark betrunken war, fügte er noch Wörter wie »nutzlos« oder »faul« hinzu: »Fauler, nutzloser Trottel.« Ich versuchte, mich zu verteidigen. Ich wollte der Familie keine Schande bereiten. Ich wollte irgendwie intellektuell tätig sein und hatte sogar erwogen, einen M. A. zu machen. Die Philosophie war für mich nur die Grundlage intellektuellen Engagements, ein Werkzeug der Kritik und nichts, was sich um seiner selbst willen zu verfolgen lohnte. Wem fiel schon einen britischer Philosoph mit Rang und Namen ein? Später interessierte mich die Psychoanalyse weit mehr, denn sie war dem Menschlichen näher.
Papa fand all das zu schwammig, und er beschimpfte mich weiter als »Trottel«. Er sagte manchmal: »Was tun denn deine anderen Cousins? Sie studieren auf Arzt, Anwalt, Ingenieur. Sie werden auf dieser Welt arbeiten können. Wer zum Teufel braucht einen Doktor der Philosophie? Yasir war genau wie du, hat die Hände in den Schoß gelegt und in Pubs gesessen. Dann hat ihm unser Vater während eines Besuches in England in den Hintern getreten, und Yasir hat Fabriken und Hotels gegründet. Also: Du darfst dies als Tritt in den Hintern verstehen!«
Wie konnte ich das Vergnügen der Pflicht vorziehen? Was war ärgerlicher und beneidenswerter? Papa hatte mir einen Tritt in den Hintern gegeben. Wohin hatte er mich getreten? Ich fühlte mich wertlos und war froh, dass er nicht in London gelebt hatte, denn vermutlich hätte einer von uns den anderen umgebracht. Während ich über die ernstzunehmenden Seiten von Papas Schelte nachdachte und mich fragte, was ich mit mir anfangen sollte, irrte ich durch Yasirs Haus. Ich hatte bereits erfahren, wie schwierig es war, in diesem Land für sich allein zu sein. Der Preis für eine weitläufige, starke Familie bestand darin, dass man einander ständig prüfte und beobachtete; jedes Wort und jede Handlung wurden diskutiert, meist missbilligend.
Eines Tages entdeckte ich, dass auch mein Onkel eine Bibliothek besaß. Auf jeden Fall gab es ein Zimmer namens »Bibliothek« mit einer Bücherwand, einem langen Tisch und mehreren Stühlen. Der Raum roch moderig, war aber sauber. Wie die zur Straße gelegenen Wohnzimmer in den Vororten wurde auch er nie benutzt.
Ich nahm die Bücher in Augenschein, allesamt gebunden. Dichtung, Prosa, viel linke politische Literatur, das meiste davon bei Victor Gollancz erschienen. Einer meiner Onkel hatte die Bücher in London gekauft und nach Pakistan verschiffen lassen. Dieser Onkel, der in Yasirs Haus wohnte, inzwischen jedoch »den ganzen Tag auf Achse war«, hatte eine Schizophrenie entwickelt. Mit Anfang zwanzig war er ein brillanter Student gewesen, doch er hatte geistig immer weiter abgebaut.
Ich ließ mich am Tisch der Bibliothek nieder und schlug das erste Buch auf, dessen Seiten sogleich zerfielen und auf den Boden rieselten, als hätte ich eine Tüte Mehl verkehrt herum geöffnet. Ich versuchte es mit anderen Bänden, doch am Ende beschränkte sich meine Lektüre auf das Studium der örtlichen Würmer. Wie es der Zufall wollte, gab es ein Buch, dem die Würmer weniger zugetan waren. Es war eine Hogarth-Press-Ausgabe von Das Unbehagen in der Kultur , ein Buch, das ich noch nicht kannte. Gleich nach dem Beginn der Lektüre dachte ich, dass sein Inhalt für die Gesellschaft, in der ich mich gerade aufhielt, viel relevanter war als für die britische. Wie dem auch sei: Ich war von der ersten Seite an gebannt, auf der Freud über »die wahren Werte des Lebens« schreibt ...
Ja, was waren die wahren Werte des Lebens? Wer hätte das nicht gern gewusst? Am liebsten hätte ich die Seiten herausgerissen, um den Inhalt zu verinnerlichen. Natürlich trieb es mich in den Wahnsinn, dass ganze Sätze dem Hunger des lokalen Getiers zum Opfer gefallen waren, und einer der Gründe, weshalb ich unbedingt nach London zurückwollte, war der, dass ich dieses Buch ganz lesen wollte. Am Ende konnte ich meine Leselust nur dadurch befriedigen - falls ich meinen Vater nicht um Bücher bitten
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