Das sag ich dir
ich das nicht beurteilen. Hast du etwa Drogen genommen?« Dazu schwieg ich. »Aber«, fuhr sie fort, »du weißt ja, dass er einen Herzinfarkt gehabt hat. Er wäre fast gestorben. Wie kann es deine Schwester nur zulassen, dass er Amphetamine nimmt? Will sie ihn umbringen?«
»Das wage ich zu bezweifeln«, sagte ich. »Henry hat einen Dickschädel, oder? Er stellt seine eigenen Regeln auf. Das mögen wir so an ihm.«
»Ich glaube, ich bin deiner Schwester bei irgendeinem Fest begegnet. Ich habe nichts gegen sie. Aber eine Frage muss ich dir stellen. Was treiben die beiden zusammen?«
»Nun, ja - Miriam ist eine alleinerziehende, muslimische Mutter mit einer langen Missbrauchsgeschichte. Tabus sind ihr weitgehend fremd, und sie erkennt immer gleich den Kern der Sache. Dein Dad - ein ungebundener Single - liebt genau das an ihr.«
Lisa saß auf der Kante meiner Analysecouch und wartete auf das Ende meiner banalen Ausführungen, um mit der Anklage fortfahren zu können, die sie einstudiert hatte.
»Wir wissen besser als jeder andere, was gut für Henry ist. Deine Familie hat sich doch um nichts gekümmert.« An diesem Punkt schien sie zu zögern, aber ich wusste, dass sie gerade erst mit ihrer Tirade begonnen hatte. »Was gehen dich unsere Probleme überhaupt an? Schließlich denkst du die meiste Zeit über die furchtbaren Qualen von Filmstars und Berühmtheiten nach. In der Zeitung hat man dich doch den Therapeuten der Stars genannt, oder?«
»Du weißt, dass das Unsinn ist. Aber ich muss gestehen, dass ich immer wieder gezielt mit Menschen gearbeitet habe, die mich interessieren. Gerade heute Vormittag habe ich mich gefragt, ob Kate Moss mich vielleicht aufsuchen möchte. Wie sollte man mich nicht darum beneiden? Im Übrigen kenne ich diesen Zeitungsartikel gar nicht. Hast du ihn gelesen?«
»Natürlich nicht.«
Im Laufe der Jahre hatten mich mehrere Athleten aufgesucht. Nachdem sie viel Mühe aufgewendet hatten, um ihre Körper zu begreifen, waren sie davon ausgegangen, auch ihren Geist auf Gehorsam drillen zu können. Erst, wenn das nicht klappte - wenn sie neugierig auf das Verhältnis zwischen Körper und Geist wurden -, suchten sie bei mir um Hilfe nach.
Der Vorfall, auf den Lisa anspielte, betraf einen Fußballer, der ein paar Mal zu mir gekommen war. Man war ihm zu meiner Praxis gefolgt. Die Zeitungen hatten Fotos von ihm gedruckt, auf denen ihm Maria meine Tür öffnete. Man machte sich allenthalben über sein Unglück lustig; er wurde als verrückt beschimpft.
»Die kleinen Probleme berühmter Leute sind ganz bestimmt die Hölle«, sagte sie. »Aber mein Vater trifft sich nicht mehr mit seinen alten Freunden. Offenbar haben sie ihn schon seit Jahren angeödet. Dabei sind es berühmte Leute, die es in ihrem Bereich bis an die Spitze geschafft haben. Aber sie sind natürlich nicht gepierct. Er hat zwei Vorstandsämter niedergelegt. Und was diese Orte betrifft, die er gemeinsam mit Miriam aufsucht ...«
»Orte?«
»Na, diese Fetisch-Clubs. Sie sind ekelhaft, und die Leute sind doch regelrecht verseucht. Glaubst du etwa, die Frauen würden freiwillig dort hingehen? Das ist Vergewaltigung, nichts weiter, sie werden von ihren Männern zum Sex mit Dutzenden von Leuten gezwungen.«
Ich fragte mich, welche der Töchter König Lears sie war und wie lange ich der Versuchung widerstehen konnte, ihr eine verbale Maulschelle zu verpassen.
»Du machst dir Sorgen über deinen Vater«, sagte ich. »Er hat sich ein bisschen verändert. Er hat sich bald wieder im Griff.«
»Dieses arrogante Analytikergewäsch ist doch für den Arsch.«
»Gewäsch?«, fragte ich.
Sie betrachtete eine Postkarte mit dem Konterfei Freuds, die auf meinem Schreibtisch stand. Ein begeisterter Patient hatte sie mir geschickt. »Freud ist doch auf ganzer Linie entlarvt worden. Patienten-Neid ...« Sie unterbrach sich. »Penis-Neid, meine ich, Herrgott nochmal.«
Sie musste sich selbst zum Trotz lachen.
»Zu viel Lug und Trug mit Schwänzen, meinst du?«, fragte ich und stimmte in ihr Lachen ein.
»Jamal, mein Vater liebt dich. Er hört sogar auf dich. Valerie auch. Aber mein Vater ist nicht in bester Verfassung, und du musst eine gewisse Verantwortung für ihn übernehmen.«
Dieses Wort. Verantwortung. Wenn ich Miriam bei ihren Fernseh-»Torturen« zuschaue, stelle ich immer fest, dass es, vom »Ich« abgesehen, das am häufigsten benutzte Wort ist. Sich zu den eigenen Taten bekennen. Sich selbst mehr als Schauspieler denn als Opfer
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