Das sag ich dir
sehen. Ich bin auf jeden Fall für Verantwortung, wer wäre das nicht? Wir sind alle für uns selbst verantwortlich. Nur - was ist das, unser Selbst? Wo beginnt es, und wie weit erstreckt es sich?
»Ja«, erwiderte ich. »Er ist verantwortlich für das, was er tut. Nicht ich. Und ganz bestimmt nicht du. Nur er allein. Du und ich«, sagte ich, indem ich aufstand und zur Tür ging, »sind hier ohne Belang. Wir sollten uns mit ihnen darüber freuen, dass sie einander glücklich machen. Hoffen wir mal, dass sie heiraten - oder wenigstens zusammenleben.«
»Heiraten? Zusammenleben? Bist du verrückt? Die beiden? Wie kommst du darauf? Ist das irgendwie wahrscheinlich?«
Ich provozierte sie, denn sie fing an, mich zu nerven. Mir blieb nur die Wahl, sie zur Weißglut zu treiben.
»Ich mag es, wenn andere zufrieden sind«, sagte ich.
Sie suchte schon ihre Sachen zusammen. Sie fragte mich, ob sie den Teebeutel mitnehmen dürfe, der in ihrer Tasse gesteckt hatte. Sie wollte ihn in ihren Komposteimer tun. Bevor sie ihn in eine Seitentasche ihres Rucksacks steckte, drückte sie ihn aus.
In der Tür sagte sie zu mir: »Ich werde nicht zulassen, dass man meinen Vater zerstört.«
Sie hatte den Fußboden mit ihren schlammigen Stiefeln eingesaut. Außerdem »vergaß« sie einen ihrer Rucksäcke. Meine Patienten ließen oft Schirme und Mäntel da und auch Kleingeld, Feuerzeuge, Kondome, Tampons und anderen Krimskrams, der aus ihren Hosentaschen auf die Couch fiel. Das war sowohl eine Form der Bezahlung als auch eine Art, eine Beziehung herzustellen. Mir war sonnenklar, dass Lisa wiederkommen würde.
Zwei Tage später stand sie erneut vor der Tür.
»Danke, dass du mich erträgst«, sagte sie, als hätte ich eine andere Wahl. Sie setzte sich auf die Couch und schob sich den Rock über die Stiefel, noch so ein buntes Ethno-Teil und mir nicht ganz unähnlich. Sie betrachtete abwechselnd ihre Beine und mich und lächelte dabei. »Wusstest du, dass Valerie eine Zeichnung von Ingres in ihrem Schlafzimmer hängen hat? Zwischen den Familienfotos und den anderen Dingen, von denen manche richtig wertvoll sind, nimmt man sie gar nicht wahr - aber sie hängt dort. Das ist wahre Achtlosigkeit. Hast du eine Ahnung, was das Bild wert ist?« Ich schwieg, als sie mich ansah. »Valerie bezeichnet dich als eine Sphinx ohne Geheimnis. Bist du nicht derjenige, der >Bescheid wissen< sollte?« Sie verstummte kurz. »Eben hast du genickt, aber sag mir doch mal: Wie kannst du immer so gelassen sein, Jamal - du bist einfac h nur da. Hast du das gelernt?«
»Bewusst nicht, nein.«
»Du rutschst oder fummelst nie herum, und deine braunen Augen schauen immer so ruhig drein. Sanft, aber gnadenlos. Und dein stilles Giaconda-Lächeln scheint zu besagen, dass du alles weißt, weil du alles hörst... Du könntest ein Mädchen glatt davon überzeugen, dass sie ihre Seele murmeln hört. Ich wette, alle deine Patienten wollen wie du sein.« Sie lächelte mich an. »Ich könnte eine Ewigkeit hier mit dir sitzen, zwischen all diesen Büchern, CDs und diesen wunderbaren Bildern.«
»Sie stammen alle von Freunden.«
»Auch die Skizzen?«
»Von meiner Frau, Josephine.«
»Und dann noch die Bilder deines Sohnes - so viele Fotos von ihm! Die Freunde meiner Mutter stellen ihre Macht oder ihren Reichtum zur Schau, du aber nicht.« Sie schwieg. »Ich weiß, dass du eigentlich keinen Rat geben darfst«, sagte sie. »Ihr Schamanen wollt ja nicht einmal zugeben, dass ihr heilen könnt - falls ihr überhaupt dazu imstande seid.«
»Der Unterschied zwischen Therapie und Analyse besteht darin, dass der Therapeut zu wissen glaubt, was gut für den Patienten ist«, sagte ich. »In der Analyse muss man das selbst herausfinden.«
»Was würdest du sagen, wenn du einen Patienten hättest, der sich selbst zerstören will?«
»Ich würde ihn warnen.«
»Jamal«, sagte sie, »darf ich dich bitte besuchen? Als Patientin, meine ich.«
Ich erwiderte, ich könnte ihr gute Analytiker empfehlen, würde sie aber nicht als Patientin annehmen. Ich würde sie anrufen und ihr ein paar Vorschläge machen. Wenn es ihr eilig sei, könne ich auch sofort ein paar Telefonnummern heraussuchen.
»Warum weigerst du dich, mir zu helfen?«, fragte sie. »Ich habe deine zwei Bücher von meiner Mutter ausgeliehen und gelesen. Ich habe mir deine Essays im Internet angeschaut. Wie alle guten Künstler gibst du mir das Gefühl, nur für mich zu schreiben.« Sie fuhr fort: »Kannst du mir Folgendes
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