Das Sakrament
würde, solange er wußte, daß sie ihn liebte. Doch sie hatte nie von ihrer Liebe gesprochen. Wie konnte sie auch? Worte hätten nicht ausgereicht, diese Liebe zum Ausdruck zu bringen. Wie konnte er es dann wissen? Und wie konnte sie es ihm mitteilen?
Aus dem Lederbehältnis, das sie um den Hals trug, nahm sie ihr Zauberglas, legte ein Auge an das Okular und richtete das Messingrohr auf den Mond. Sie drehte an den Rädchen mit den bunten Glassplittern. Außer einem Farbenwirbel sah sie jedochnichts. Seit sie auf die Insel gekommen war, hatte sie ihre seherische Kraft verloren. Vielleicht hing ihr Verlust mit der dunklen Aura des Krieges zusammen. Vielleicht damit, daß sie sich so sehr verliebt hatte.
Amparo saß auf dem Felsen, bis der Mond seine Reise durch den Nachthimmel vollendet hatte und nur noch traurig und gespenstisch am westlichen Horizont hing. Hinter ihr färbte sich der Horizont im Osten bereits violett, und im blassen Licht sah sie, daß vierzig türkische Kriegsschiffe in die Bucht eingefahren waren und nun an Land gezogen wurden, in einer Linie, die sich ungebrochen bis hinter den Landvorsprung erstreckte, auf dem Tannhäuser festsaß. An der dem Meer zugewandten Spitze der Halbinsel loderten Leuchtfeuer, und überall auf den Berghängen flackerten Gewehrmündungen auf, als viertausend Musketenschützen in einer einzigen ungeheuerlichen Reihe ihre Flinten abfeuerten. Die Galeeren schlingerten vor Anker, während die Kanonen auf den Decks aufbrüllten. Der Hang des Monte Sciberras schien das geschmolzene Erdinnere auszuspeien, als hundert teuflische Belagerungskanonen im Einklang losdonnerten. Irgendwo inmitten dieses Infernos befand sich Tannhäuser.
Ein dunkler Fleck breitete sich über den Berghang aus. Amparos Augen weiteten sich vor Schrecken, und ihr gefror das Blut in den Adern, als sie beobachtete, wie zehntausend Soldaten mit haßerfüllten Schreien den Abhang hinunterstürmten. Von der zerborstenen Umfassungsmauer der Festung ertönte als Antwort eine jämmerliche Gewehrsalve, und ein zerfetztes Banner wurde geschwenkt.
Amparo hatte all das doch in ihrem Zauberglas gesehen. Die Ordnung der Unordnung. Den Abgrund, in dem jegliche Harmonie und Struktur für alle Zeiten versunken waren. Sie hob das Zauberglas noch einmal ans Auge und richtete es auf die noch nicht aufgegangene Sonne. Sie drehte die Rädchen. Die Farben wechselten, und eine Röte breitete sich in ihr aus, überschwemmte ihre Gedanken. Erst hielt sie es für Blut, dann wurde einen Augenblick lang, einen schrecklichen, unendlichen Augenblicklang, aus dem Rot ein Kleid, eine Frau trug es, und die Frau in Rot baumelte vom Ende eines Seiles, das man ihr um den Hals gelegt hatte.
Das Glas fiel ihr in den Schoß. Für Momente war Amparo taub für das Brüllen der Kanonen und blind für das Feuer. Auf der Zunge lag ihr ein bitterer und metallisch kalter Geschmack. Sie verschloß das Zauberglas wieder in seinem ledernen Köcher und erhob sich auf dem Felsen. Dann warf sie das Zauberglas ins Meer, wo es sofort spurlos versank.
Mit dem Verschwinden des Zauberglases war etwas Kostbares in ihr gestorben und etwas Neues geboren. Nun würde Amparo der Zukunft ohne Prophezeiungen entgegentreten und der Gegenwart die Stirn bieten, wie sie es nie zuvor gewagt hatte: voller Hoffnung. Die Engel hatten sie verlassen. Amparo wußte nicht, wie sie den Allmächtigen um Hilfe bitten konnte. Nie zuvor hatte sie an so etwas gedacht. Sie schloß die Augen und faltete die Hände.
»Bitte, Gott«, sagte sie. »Beschütze meinen Liebsten vor Unheil.«
Amparo schlug die Augen auf. Zinnoberrot stieg die Sonne am Horizont in den Himmel hinauf. Als Antwort auf ihr Gebet vernahm sie nur das Wüten der Moslem-Kanonen.
S AMSTAG , 16. J UNI 1565
In St. Elmo – Auf den Befestigungswällen – In der Schmiede
Was Orlandu am meisten überrascht hatte, war die Erkenntnis, daß eine Schlacht harte Arbeit war. Die Furcht, die Schrecken, die unberechenbaren Panikattacken und Freudenausbrüche, den Haß, die Treue und Tapferkeit, all das hatte er sich schon immer so vorgestellt, denn es kam auch in den Geschichten vor, die man ihmsein ganzes Leben lang erzählt hatte. Weil diese Erzählungen immer recht kurz gewesen waren, wurden die Schlachten seiner Phantasie stets in wenigen dramatischen Augenblicken geschlagen. Sechs, acht, zehn Stunden Kampf aber waren in Wahrheit zermürbend und so langweilig, als müßte man in drückender Hitze Steine schlagen, während
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