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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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Namen. Wenn jemand entgegen allen Erwartungen überlebte, schrieb man es ihren heilenden Kräften zu. Wenn jemand starb, während Carla ihm die Hand hielt, dann bezweifelte niemand, daß er geradewegs durch die Himmelspforte eingelassen würde. Nichts von alledem schrieb Carla sich selbst zu. Sie wußte, daß sie lediglich ein Werkzeug der Liebe Gottes war. Und doch schenkte es ihr ein ungeheures Hochgefühl.
    Das allgemeine Gefühl der Trauer, das über der Stadt lag, war in der schweren Prüfung begründet, die das tapfere St. Elmo erleiden mußte, dessen Überleben man schon seit langem nur noch durch Wunder erklären konnte und dessen Fall man jeden Augenblick erwartete. Die Entsatztruppen, die Garcia de Toledo, der Vizekönig von Sizilien, bis zum 20. Juni versprochen hatte, waren nicht eingetroffen, und es erwartete sie auch niemand mehr. Alle Gebete wurden für die Seelen der Gefallenen von St. Elmo gesprochen und für die Seelen derjenigen, die sich schon bald zu ihnen gesellen würden. Mit kummervollem Herzen betete Carla für Mattias und für Orlandu, ihren Sohn, den sie nicht erkannt hatte, den sie deswegen aber nicht weniger liebte.
    Die Fronleichnamsprozession war so prächtig, wie man sie überhaupt in dieser Lage gestalten konnte. Außer den Soldaten, die Wache standen, waren alle Christen erschienen, die laufen oder die man tragen konnte. Die Straßen wimmelten von einer Stadtmauer zur anderen vor Menschen, als die Prozession sich auf die Kirche San Lorenzo zuschlängelte. Der Großmeister führte seine Ritter an, die das allerheiligste Sakrament – Corpus Christi , den Leib des Herrn – in seiner herrlichen goldenen, von Lilien umrahmten Monstranz begleiteten. Einige weinten, daß es derlei Blumen immer noch gab, in der Wüste, zu der ihre Welt geworden war. DieIkone Unsere Liebe Frau von Philermo, in roten Damast gekleidet und mit Perlen geschmückt, und die Ikone Unsere Liebe Frau von Damaskus wurden hoch erhoben durch die Straßen getragen. Als Dämonen verkleidete Männer gaben vor, in gespieltem Schrecken vor dieser göttlichen Gegenwart zurückzuweichen. An der Spitze der Fronleichnamsprozession zogen vor dem heiligen Sakrament als Engel gekleidete Kinder, einer der neun himmlischen Chöre, die das Panis Angelicum sangen.
    An verschiedenen Stellen kam die Prozession zum Stillstand. Mit Weihwasser wurde gesegnet, Segnungen wurden ausgesprochen. Man sang das Tantum Ergo Sacramentum des Thomas von Aquin. Kerzen brannten, Weihrauch wehte, und ein Kind führte ein Lamm an einem roten Band. Banner flatterten, die der heiligen Katharina, dem heiligen Julian, Johannes dem Täufer und der Schmerzensreichen Gottesmutter geweiht waren. Zudem trugen die Brüder des Heiligen Hospitals die kostbare Fahne aus Rhodos, die die Gottesmutter mit dem Kinde zeigte: Afflictis tu spes unica rebus. In allen Anfechtungen bist Du unsere einzige Hoffnung.
    Kapellen spielten, und die Kirchenglocken läuteten, während die türkischen Belagerungskanonen über die Bucht donnerten. Als die Prozession den Platz vor San Lorenzo erreicht hatte, durchströmte alle Teilnehmer die Kraft Gottes wie ein heiliger Fluß. Trotz allem, was sie durchlitten hatten, und obwohl unter den zwanzigtausend Versammelten keine Seele war, die sich nicht an einen anderen Platz auf Erden gewünscht hätte, waren ihre Herzen zu Gott erhoben, denn sie wußten, daß das Lamm Gottes hier in dieser vergänglichen Welt alle und jeden liebte.
    Als sie von der Messe zurückkehrten, erblickte Carla in der Menge Amparo. Ihre Augen waren nicht mehr matt, ihre Haut schimmerte wieder rosig, und ihr Körper war wieder katzenhaft geschmeidig, als sie sich durch das Gedränge schob. Dann war sie verschwunden, und Carla war leichter ums Herz. Sie ging zum Krankensaal, um für die Verwundeten zu beten und auch für Mattias und ihren Sohn.
    Trotz der Feierlichkeit des Fronleichnamsfestes fand jedoch dastägliche Ritual in den Verschlägen der Sklaven statt. Obwohl kaum noch jemand außer seinen Henkern es mit ansah, wurde der zweiunddreißigste gefangene Moslem aus den Gefangenen ausgewählt. Man knebelte ihn und zerrte ihn durch die abgelegenen Straßen, durch die die Fronleichnamsprozession nicht kam, schob ihn die Stufen an der Mauer zum Galgen der Provence hinauf, wo man ihm die Schlinge um den Hals legte und ihn sterben ließ.
    In den Überresten von St. Elmo jenseits des Wassers suchte Tannhäuser das Gelände ab und fand Orlandu bei der Arbeit mit einem Trupp

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