Das Sakrament
gehört, sie hätte schwerlich sagen können, ob die Gestalt, die dort an einen Baumstamm gekauert lag, männlich oder weiblich war, ob sie überhaupt ein Mensch war und nicht ein phantastisches Geschöpf des Waldes. Außer einem schmutzigen Pelz, den sie um den Hals trug, und dem Überrest einer langen wollenen Hose war Amparo nackt. Ihre Füße waren groß für ihre Statur und blaugefroren, genau wie die Hände, die sie zwischen den Brüsten zusammengeklammert hielt. Beide Arme waren von den Schultern bis zum Handgelenk mit blauen Flecken übersät, genauso wie die blasse, durchscheinende Haut, die sich über ihren Brustkorb spannte. Ihr Haar war rabenschwarz und grob abgeschnitten. In den verschiedenfarbigenAugen waren weder Angst noch Selbstmitleid zu erkennen, und das machte sie jammervoller als alles, was Carla je gesehen hatte. Amparo erklärte ihr nie, wie sie in diesen Wald gekommen war, ausgehungert, schmutzig und dem Tode nah. Sie redete kaum je von ihrer Vergangenheit und antwortete auch dann nur mit ja und nein auf Carlas Vermutungen.
Während Carla bei dieser ersten Begegnung abstieg und sie beim Arm nahm, schrie Amparo so durchdringend auf, daß sich Carlas Pferd beinahe losgerissen hätte. Das Erschrecken des Tieres ließ Amparo aufspringen. Sie tröstete das Pferd und murmelte ihm leise ins Ohr, ganz unbesorgt um ihren eigenen jämmerlichen Zustand. Als Carla ihr den eigenen Umhang um die Schulter legte, wehrte sich Amparo nicht, und obwohl sie den Sattel ablehnte, war sie es doch zufrieden, neben dem Pferd herzulaufen und den Zügel zu halten. So war Amparo vor sieben Jahren in Carlas Haushalt angekommen. Sie begleitete ihre neue Herrin nach Hause, hinter ihr schleifte der lange grüne Umhang auf dem Boden, und sie wirkte wie ein barfüßiger und zerlumpter Page aus einer nie erzählten Geschichte.
Die Mitglieder von Carlas Haushalt, der Priester, ihre wenigen Bekannten im Dorf und all die vielen Klatschmäuler waren sich darin einig, daß Carla schlecht beraten war – ja wahrscheinlich so verrückt wie das Mädchen selbst –, als sie dieses seltsame Wesen aufnahm. Amparo, die damals gerade einmal ihr zehntes Lebensjahr vollendet haben konnte, neigte zu gewaltsamen Ausbrüchen, zu denen sie die merkwürdigsten Dinge provozierten, verbrachte viele Stunden im Gespräch mit Pferden und Hunden, denen sie mit Leidenschaft in ihrer silbrigen Stimme Lieder vorsang. Sie weigerte sich, Fleisch oder Geflügel zu essen, lehnte manchmal frisches Brot ab und nahm bei ihrer Lieblingsernährung, die aus Nüssen, wilden Beeren und rohem Gemüse bestand, kaum eine Unze zu. Sie blieb so ausgemergelt, wie Carla sie gefunden hatte. Ihre Weigerung, dem Priester in die Augen zu schauen, die Tatsache, daß ihre Augen von unterschiedlicher Farbe waren, all das waren sichere Anzeichen dafür, daß Amparo teuflische Neigungen hatte.
Carla hielt zu Amparo, obwohl sie manchmal tagelang verschwand, trotz aller Schwierigkeiten, die ihr die Gesellschaft machte, trotz aller Angebote von Exorzismus und obwohl das Mädchen offensichtlich nicht in der Lage war, Zuneigung zu erwidern. Sie schien die Gefühle anderer nicht zu spüren, oder wenn sie sie doch spürte, waren sie ihr völlig gleichgültig. Trotzdem zeigte Amparo in der Loyalität, die sie zu Carla entwickelte, darin, daß sie ihr von den Entdeckungen in ihrem Zauberglas erzählte, am meisten aber in dem naiven Genie, mit dem sie sich ihren musikalischen Studien widmete, eine tiefere Liebe, als die meisten Menschen sie je erfuhren. Sie waren seltsame Freundinnen, und doch hatten sich kaum je Freundinnen nähergestanden.
»Ich gehe nicht nach Messina, ehe du es mir versprochen hast«, beharrte Amparo. »Spielen wir jetzt für ihn oder nicht?«
Carlas Herz pochte bei diesem Gedanken schneller. Man lud nicht einen Mann – noch dazu einen Mann von zweifelhaftem Ruf – in eine fremde Villa ein und drängte ihm ohne jede Warnung seine Künste auf. Tannhäuser würde sie für wahnsinnig halten. Ihr Verstand sagte ihr, es wäre töricht, für ihn zu musizieren. Doch ihr Herz sagte ihr, es würde über alle Maßen wunderbar sein. Amparo wartete auf ihre Antwort.
»Ja«, sagte Carla. »Wir spielen für ihn. Wir spielen, wie wir nie zuvor gespielt haben.«
Amparo erwiderte: »Du nimmst mich mit, nicht wahr? Wenn du mich zurückließest, könnte ich es nicht ertragen.«
Diese Frage hatte das Mädchen schon unzählige Male gestellt, seit sie auf diese Reise aufgebrochen
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