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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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Sternenlicht, das in einem menschlichen Körper eingesperrt war, aber nur auf den rechten Augenblick wartete, um seine Reise in die Ewigkeit fortzusetzen.
    »Ist es Zeit zum Spielen?« fragte Amparo.
    »Nein, noch nicht.«
    »Aber wir spielen doch?«
    »Natürlich.«
    »Du hast Angst.«
    »Nur um deine Sicherheit.«
    Amparo schaute auf die Rosen. »Ich verstehe nicht.«
    Carla zögerte. Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, sich um Amparo zu kümmern, daß es ihr beinahe wie ein Verbrechen erschien, sie zu bitten, sich in diese Räuberhöhle zu begeben. Amparo hatte jedoch auf den Straßen von Barcelona überlebt: eine Kindheit voller Gewalt und Entbehrungen, die Carla sich überhaupt nicht vorzustellen wagte. Feigheit war keiner von Amparos Fehlern, während Carla tief in ihrem Herzen glaubte, daß es durchaus einer von ihren eigenen Fehlern war.
    Carla lächelte. »Was muß das Sternenlicht von der Dunkelheit fürchten?«
    »Nun, nichts.« Amparo runzelte die Stirn. »Ist das ein Rätsel?«
    »Nein. Ich möchte, daß du etwas für mich tust, etwas, das von äußerster Wichtigkeit ist.«
    »Ich soll für dich den Mann auf dem goldenen Pferd suchen.«
    Amparos Stimme war weich wie der Regen. Sie sah die Welt durch die Augen einer Mystikerin. Carla war mit der Phantasieihrer Gefährtin so vertraut, daß sie diese Antwort nicht seltsam fand. Sie antwortete: »Er heißt Mattias Tannhäuser.«
    »Tannhäuser«, wiederholte Amparo, als prüfte sie den reinen Klang einer soeben gegossenen Glocke. »Tannhäuser.« Sie schien zufrieden zu sein.
    »Ich muß heute noch mit ihm sprechen. Ich möchte, daß du zum Hafen gehst und ihn mit hierher zurückbringst.«
    Amparo nickte.
    »Wenn er sich weigert, mitzukommen …«, fuhr Carla fort.
    »Er wird kommen«, sagte Amparo, als wäre alles andere undenkbar.
    »Wenn er nicht kommen will, dann frage ihn, ob er mich, sobald es ihm genehm ist, bei sich empfangen will – aber es muß noch heute sein, verstehst du?«
    »Er wird kommen.« Amparos Gesicht leuchtete in der seltsamen Freude, die ihre nächste Annäherung an ein Lächeln war.
    »Ich sage Bertholdo, daß er die Kutsche fertig machen soll.«
    »Ich hasse die Kutsche«, sagte Amparo. »Sie ist stickig und langsam und außerdem grausam zum Pferd. Ich werde reiten, und wenn Tannhäuser nicht kommen will, dann ist er nicht der Mann, der über den messerscharfen Grat geht. Aber warum willst du ihn nicht zu einem späteren Zeitpunkt treffen?«
    Carla wußte, daß hier alle Argumente nichts nutzen würden. Sie nickte. Amparo wandte sich ab, blieb dann jedoch stehen und blickte zurück. »Können wir spielen, wenn ich zurück bin? Sobald ich zurück bin?«
    In Amparos Tagen gab es zwei unveränderliche Elemente, ohne die sie traurig und verzweifelt wurde: die Stunde, die sie jeden Nachmittag mit Musizieren verbrachten, und ihre Zeit mit ihrem Zauberglas nach Einbruch der Dunkelheit. Sie ging auch jeden Morgen zur heiligen Messe, aber nur um Carla zu begleiten, nicht aus Frömmigkeit.
    »Nicht, wenn Tannhäuser mit dir kommt«, sagte Carla. »Was ich ihm zu sagen habe, ist dringend. Dieses eine Mal muß die Musik warten.«
    Amparo schien über Carlas Torheit erstaunt. »Aber du mußt für Tannhäuser spielen. Für ihn haben wir doch so lang geprobt.«
    Das war ein absurder Gedanke, denn sie spielten schon seit Jahren. Jedenfalls fand Carla diesen Gedanken völlig abwegig. Amparo sah ihre Zweifel. Sie ergriff Carla bei den Händen und schüttelte sie wild, als tanze sie mit einem Kind.
    »Für Tannhäuser! Für Tannhäuser!« Wieder ließ sie seinen Namen klingen wie eine Glocke. Ihr Gesicht leuchtete. »Stell dir vor, meine Liebe. Wir spielen für ihn, wie wir niemals zuvor gespielt haben.«
    Der Anfang mit Amparo war schwierig gewesen. Carla hatte sie gefunden, als sie an einem kristallklaren Februartag einen frühmorgendlichen Ausritt machte, als die Nebel noch um die Beine ihres Pferdes rauchten und die ersten Kirschbäume schon blühten. Der Nebel hatte Amparo vor ihren Augen verborgen, und ihre Pfade hätten sich nicht gekreuzt, hätte Carla nicht in der Landschaft eine hohe, flötende Stimme vernommen, wie den Klageruf eines Engels. Die Stimme sang in kastilischem Dialekt eine Melodie, die auf den Schwingen des Todes daherkam. Was immer die Worte bedeuteten, die überirdische Schönheit des Liedes ließ Carla ihr Pferd anhalten.
    Sie fand Amparo in einer von Weiden gesäumten Lichtung. Hätte sie es nicht bereits an der Stimme

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