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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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aufwirbelnden Winden der Zerstreuung, den lasttragenden Wolken, den leicht übers Meer dahinziehenden Schiffen und den Deinen Befehl ausführenden Engeln! Wahrlich, was euch angedroht wird, ist wahr. Und das Gericht wird ganz sicher eintreffen.«
    Mattias nickte. »Es waren die ersten Verse von Al-Kitab , die du mir beigebracht hast, denn es war die Sure, aus der du meinen Namen ausgewählt hast.«
    »Gott hat ihn ausgewählt, nicht ich.«
    Tannhäuser nickte. Er dachte nicht oft an diese Tage, aber einen Augenblick lang hatten ihn seine Erinnerungen eingeholt, und ihm wurde klar, wie kostbar dieser Abend mit Abbas war und daß immer einmal eine Zeit kam, in der man sich auch an die dunklen Zeiten mit einer Art Zuneigung erinnern konnte.
    Er sagte: »Ich habe damals die Verse gelernt, wie du sie gesprochen hast, so wie du sie heute sprachst, und das hat dir gefallen, wenn ich sie auch nicht verstehen konnte.«
    »Kein Mensch kann je das Wort Gottes völlig verstehen«, warf Abbas ein.
    »Das hast du mir damals auch gesagt. Ich wünschte, auch andere wüßten es.«
    Abbas stimmte ihm mit ernster Miene zu.
    »Du hast mir damals auch gesagt«, fuhr Tannhäuser fort, »daß das Wort Allahs in keiner anderen Zunge gesprochen werden kann, denn Arabisch sei die Zunge, die Er auserwählt habe, um zum Propheten, gepriesen sei Sein Name, zu sprechen. Und doch hast du mir die Worte Adh-Dhariyat übersetzt. Die Winde der Zerstreuung.«
    Abbas lachte überrascht. »Wirklich?«
    »Es war mir ein Trost, ich weiß nicht, warum. Und ein großesGeheimnis. Ich habe dich gedrängt, mir die Bedeutung zu erklären. Was ist ein Wind der Zerstreuung? Du warst sehr geduldig. Du hast darüber nachgedacht. ›Der Wind, der die Spreu vom Weizen trennt‹, hast du gesagt. Ich habe mich gefragt, ob ich das eine oder das andere wäre, denn ich hatte das Gefühl, als hätte mich der Wind davongetragen. Was ist der Unterschied zwischen dem Weizen und der Spreu? Da hast du wieder nachgedacht und geantwortet: ›Der Unterschied zwischen denen, die das Leben lieben, und denen, die den Tod lieben.‹«
    Abbas schien überrascht zu sein. »Das habe ich gesagt?«
    »Ich hatte es viele Jahre lang vergessen«, antwortete Tannhäuser, »aber an dem Tag, als ich mit ansah, wie der Eunuch dem kleinen Prinzen die Bogensaite um den Hals legte, habe ich mich wieder daran erinnert. Ich habe es seither nicht wieder vergessen.«
    »Es obliegt den Gelehrten, die Ulema zu interpretieren. Wenn ich so etwas gesagt habe, dann war ich damals wohl jung und neigte zu unbedachten Gotteslästerungen. Verzeih mir!«
    Abbas erhob sich. Tannhäuser tat es ihm nach, war aber so schwach, daß er sich mit den Händen auf der Tischplatte abstützen mußte. Er schwankte leicht, und Abbas nahm ihn beim Arm.
    »Ibrahim«, sagte Abbas. »Als ich dich in St. Elmo gefunden habe, hast du mich Vater genannt.«
    »Ich habe immer als Vater an dich gedacht«, antwortete Tannhäuser. »Wenn es auch eine Vermessenheit ist, zu der ich kein Recht habe. Ich hoffe, ich habe dich nicht beleidigt.«
    »Du hättest mir keine größere Ehre erweisen können.« Abbas wandte den Blick ab, um den Überschwang seiner Gefühle zu verbergen. Als er Tannhäuser das Gesicht wieder zuwandte, waren seine Augen klar. »Hast du je deinen eigenen Vater wiedergesehen?«
    »Nein«, erwiderte Tannhäuser, obwohl es auf eine gewisse Art nicht stimmte.
    »Er wäre stolz auf die Ehren gewesen, die du errungen hast«, meinte Abbas lächelnd.
    »In einer Welt, in der Eunuchen Kinder erdrosseln und diesePflicht als heilig bezeichnen, ist Ehre ein Gut, das nur schwer zu finden ist. Wie der Glaube.«
    »Ibrahim –«
    »Weißt du«, fuhr Tannhäuser gegen alles bessere Wissen fort, »es war nicht der Makel des Kindesmordes, der mich mit solcher Scham erfüllte, sondern die Tatsache, daß ich meine heilige Pflicht nicht erfüllt hatte. Gegenüber dem Korps. Gegenüber dem Ocak . Gegenüber dem Sultan. Gegenüber Gott. Und weil mir die Pflicht mehr bedeutete als der Kindesmord, wußte ich, daß ich entweder den Verstand verloren hatte – oder meine Seele.«
    Abbas schüttelte den Kopf. »Wir kommen von Gott und werden sicherlich zu Ihm zurückkehren. Bitte sag mir, daß du nicht verloren bist.«
    Nun war der Augenblick gekommen, seinen reinen Glauben zu bestätigen, zumindest hier vor den Augen seines Beschützers. Tannhäuser zitierte die Einheitssure. »Allah ist der Alleinige, Allahus-samad, der Einzige und Ewige. Er zeugt

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