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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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Euch erklären, daß ich als ganz junger Mann in eine Welt eingetreten bin, aus der alle Frauen völlig verbannt waren. Es war eine Gesellschaft von Männern, die gerade einmal die bloße Existenz von Frauen anerkannten. Ein Mann, der Frauen kannte, der sie begehrte, von ihnen träumte, sie vielleicht liebte, galt als Schwächling. Und die Janitscharen waren stark. Erst nachdem ich ihren Kreis verlassen, jeglichen Glauben abgelegt und jeglichen Schwur gebrochen hatte und mich in Venedig aufhielt, entdeckte ich die Gesellschaft vonFrauen überhaupt wieder. Wegen dieser frauenlosen Zeit sind weibliche Wesen für mich immer noch ein sehr großes Mysterium, und selbst jetzt errege ich manchmal Anstoß, wo keine Beleidigung beabsichtigt war.«
    Kein Mann hatte je so offen zu ihr gesprochen. Tannhäuser hatte sicherlich nicht die Absicht, sie für sich einzunehmen, trotzdem hatte er es getan. Um die Form zu wahren, erwiderte Carla: »Es wurde kein Anstoß genommen, und ich gewähre Euch gern meine Verzeihung.« Dann spürte sie, daß er dies nicht nur erzählt hatte, um sich zu entschuldigen. Sie fragte: »Warum sagt Ihr mir all das?«
    »Ich werde Frauen nie so verstehen, wie das andere Männer tun. Deshalb höre ich Eure Geschichte auch so, wie es kein anderer Mann kann.«
    Carla starrte ihn sprachlos an.
    »Ihr habt nie Euer Kind in den Armen halten dürfen«, sagte er. »Ihr habt es nie gestillt. Ihr habt es nie bei der Hand gehalten und durch seine Narrheiten und Ängste geführt.«
    Sie schnappte nach Luft, als hätte man sie mit einem Messer durchbohrt, und wandte sich ab.
    »Dem Kind wurden die Dinge verweigert, die jedes Kind braucht, so wie man Euch der Dinge beraubte, die jede Mutter braucht. Ihr hattet keine Macht, dieses abscheuliche Verbrechen zu verhindern, und doch belastet die Schuld nicht denjenigen, der dafür verantwortlich war, sondern sie lastet auf Euch wie ein schwerer Grabstein, der Euch zermalmt. Manchmal wacht Ihr nachts auf und könnt nicht atmen. Ihr seht das Gesicht Eures Kindes in Euren Träumen, und es bricht Euch das Herz. Sein Schluchzen hallt durch eine Leere, die nichts auf dieser Welt füllen kann. Und mit der Zeit brennt sich das Wissen um Eure Unschuld noch grausamer in Euer Gewissen als jegliche Sünde, die Ihr je begehen könntet.«
    Sie drehte sich um und blickte ihn an. Seine Augen leuchteten wild, aber ohne jede Bosheit.
    »Ja, ich höre Eure Geschichte«, fuhr Tannhäuser fort. »Ich verstehe sie – besser, als Ihr Euch vorstellen könnt.«
    Carla spürte, wie ihr die Tränen im Hals brannten. »Wie könnt Ihr mit solch treffenden Worten und so viel Gefühl über diese Dinge reden?«
    »Das soll Euch nicht bekümmern«, meinte er. »Laßt mich noch einmal fragen, denn Ihr habt mir noch nicht geantwortet: Warum sucht Ihr den Jungen erst jetzt?«
    Sie nahm ihren ganzen Verstand zusammen und räusperte sich. »Vor etwa drei Monaten übernachtete der Chevalier Adrien de la Rivière auf dem Weg nach Marseille in meinem Haus. Er hoffte, sich von dort aus nach Malta einzuschiffen. Er wußte um meine Herkunft und war sich sicher, daß ich ihn höflich willkommen heißen würde. Als ich hörte, daß die Insel wahrscheinlich den Türken in die Hände fallen würde, war mir sofort klar, daß ich meinen verlorenen Sohn finden mußte, um jeden Preis und ungeachtet der Tatsache, daß uns Gott vielleicht nur eine sehr kurze Zeit zusammen gewähren würde.«
    Tannhäuser zeigte mit keiner Regung, daß er dieses Argument recht unvernünftig fand. Er bat sie mit einem Nicken, weiterzusprechen.
    »Ich sagte mir selbst, daß es absurd sei, aber noch in derselben Nacht hatte ich eine Erscheinung. So klar und deutlich, wie ich jetzt Euch sehe, nahm ich Unsere Liebe Frau mit dem Heiligen Jesuskind im Arm neben meinem Bett wahr. Dieser Augenblick schenkte mir tiefen Trost. Ich begriff, daß die Suche nach meinem Jungen keine närrische Laune war, sondern der Wille Gottes. Wenn ich nicht mindestens diesen einen Versuch machte, die Wahrheit meines Lebens zu finden, würde ich in einer Lügenwelt weiterexistieren. Denn ich sage Euch, Hauptmann Tannhäuser, mein Leben war nur Täuschung, seit dem Tag, an dem ich zuließ, daß sie mir meinen Jungen wegnahmen – und ich habe nicht einmal die Hand erhoben, um sie daran zu hindern.«
    Tränen machten ihr die Augen blind. Carla fürchtete, er würde sie für Tränen des Selbstmitleids halten, obwohl es doch in Wahrheit Tränen der Wut waren. Sie wischte sie

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