Das Sakrament
ausschlaggebende Einfluß nicht Jesus Christus, sondern die Lust: Lust auf Gold, Güter und Schönheit, auf Sex, Essen und Wein, auf Titel, Pracht und Prahlerei, auf Intrigen und Verrat, vor allem aber auf Macht. Selbst auf die Frömmigkeit war die Begierde gerichtet, und sie war käuflich wie all die anderen Waren. Im Gegensatz zum Fleiß des Nordens und der spanischen Herrschaftsgebiete im Süden herrschte in Rom die Faulheit – sowohl unter der Menge der Armen, die wie zahnlose Hunde durch die grauenhaften Elendsviertel schlichen, als auch unter den raffgierigen Legionen der Reichen in ihren prächtigen Palästen. In einer endlosen Orgie fleischlicher Genüsse verschlang Rom ungeheure Mengen von Bargeld – die an allen Ecken der Christenheit den Gläubigen aus der Tasche gezogen, von den aufstrebenden Familien der internationalen Finanziers geliehen, den ländlichen Gemeinden als päpstliche Steuer abgepreßt wurden. Die Kirchen und Kathedralen waren Tempel, die mit der Kunst der Badehäuser ausgeschmückt waren, an allen Wänden geziert mit den Genitalien und Hintern lüstern grinsender Päderasten, mit knabenhaften Märtyrern, die sich in erotischen Qualen wanden, mit pädophilen Handlungen, die unter dem Mäntelchen der Andachtshilfe für Gläubige daherkamen. Kardinäle, die kaum zwanzig Jahre alt waren und kaum einen Segen murmeln konnten, stolzierten die Via della Pallacorda entlang – von der Spielhölle zum Bordell und zurück – und wurden von ungebührlichen Horden gedungener Bravi beschützt. In einer Stadt, die sich keiner einzigen Zunft oder Gilde rühmen konnte und wo es keine einfache Sache war, auch nur ein Pferd beschlagen zu lassen, blühte als einziges Gewerbe die Prostitution und mit ihr die französische Krankheit. Jedes rehäugige Mädchen und jeder Jüngling mit zarter Haut schien nur für eine samengetränkte Matratze vorbestimmt. Außerhalb der Stadt zogen ganze Heere von Banditen plündernd und raubend durch das Land, und jenseits der hohen Alpenpässe wogte das giftige Meer des Protestantismus – Kalvinisten, Lutheraner, Waldenser, Wiedertäufer, Ketzer aller Art und Gestalt – und bedrohte sogar den Heiligen Stuhl.
Ludovico wandelte über diesen Sündenpfuhl wie Christus über den See Genezareth. Die Prälaten, die sich in den Marmorhallen die Bäuche vollstopften, betrachteten seine knochige strenge Gestalt voller Furcht – und das zu Recht, denn er verachtete sie von ganzem Herzen. Während seines letzten Aufenthaltes in Rom hatte Ludovico den Bischof von Toulon, einen gewissen Marcel d’Estaing, vernichtet, einen notorischen Homosexuellen mit einer Vorliebe für Diamanten und Frauenkleider. Die Bibel, der heilige Paulus, Thomas von Aquin und viele andere Autoritäten verdammten zwar außerehelichen Geschlechtsverkehr und Sodomie, aber wenn man genau hinschaute, stand nirgends geschrieben, daß Sex mit Jungen eine Sünde war, weder eine läßliche noch eine Todsünde. Diese Auslassung erklärte, warum es in den unzähligen Bordellen der Stadt so viele engelgleiche Jünglinge – die Bardassos – gab. Selbst diese Lücke im Kirchengesetz hatte der Bischof von Toulon außer acht gelassen und sich statt dessen mit erwachsenen Männern vergnügt und damit sein Schicksal besiegelt. Ludovico hatte dafür gesorgt, daß man den jammernden Prälaten in einen Sack einnähte und in den Tiber warf.
Und doch gab es inmitten dieses schmutzigen Regiments von Sodomiten, Fressern und Dieben eine Gruppe bemerkenswerter Männer, denen Rom sein Überleben als Zentrum der christlichen Welt verdankte. Männer von großer Frömmigkeit, Skrupellosigkeit und Befähigung, die ohne Soldaten, ohne Schiffe und mit kaum mehr als Versprechungen versuchten, die Geschicke der Nationen zu steuern und das moralische Heil der Menschheit zu sichern. Männer, die von der mächtigsten aller Begierden besessen waren: vom Wunsch, den Lehm der Geschichte zu formen. Ludovico und Kardinal Ghislieri waren zwei solche Männer. Ihr Heer war das Heilige Offizium der Römischen Inquisition.
Die beiden Reisenden gelangten endlich zum festungsgleichen Dominikanerkloster von Santa Sabina. Ludovico schickte Anacleto zum Abendessen mit den Mönchen. Offiziell diente Ludovico dem Papst Pius IV., Giovanni Medici. Tatsächlich war er aber ein Diener von dessen eingeschworenem Feind Michele Ghislieri,der mit einigem Glück der nächste Papst sein würde. Ghislieri begrüßte Ludovico freudig, dann zogen die beiden sich zu einem
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