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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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ihr bis ins Mark. Männer schrien oder murmelten Gebete. Peitschen, Trillerpfeifen und Flüche trieben die Arbeitstrupps an, arme, unglückselige Kerle in Ketten, die in dieser Stadt endloser hoher Mauern noch mehr Mauern bauen mußten. In der Herberge saß Carla und grübelte, weil sie ihren Jungen nicht finden konnte. Vielleicht war Carla, wenn sie es auch nicht ausgesprochen hatte, selbst ein wenig niedergeschlagen, weil Tannhäuser Amparo zu seiner Geliebten genommen hatte.
    Was den unbekannten Jungen betraf, so hegte Amparo kaum Gefühle für ihn. Es war eine Suche, die von ihnen verlangte, längst vergangene Ereignisse mit einer Zukunft zu verknüpfen, die noch ungewiß war. Dieses Rätsel verwirrte sie. Ihre Phantasie erstreckte sich nie weiter als einige Stunden voraus. Der morgige Tag lag in weiter Ferne, und der gestrige war vergangen. Ehrgeiz war ihr fremd, und sie hatte nur wenige Erinnerungen. Sie hoffte, daß man den Jungen finden würde, weil es Carla glücklich machen würde. Ehe Carla unter den Weiden erschienen war wie einer der Engel aus ihrem Zauberglas, hatte Amparo ein Leben des Duldens geführt. Seither war ihr Dasein mit wundersamen Dingenund mit Schönheit angefüllt. Amparo liebte Carla, doch die Suche nach dem Jungen war ein Unterfangen, an dem sie keinen Anteil zu haben glaubte.
    Tannhäuser dagegen liebte sie mit einer wilden und schrecklichen Leidenschaft, die sie bis ins Mark erschütterte. Sie liebte ihn, seit er ihr die Geschichte von der Nachtigall und der Rose erzählt hatte – von der blutroten Rose, die das einzige Wesen getötet hatte, das sie anbetete. Tannhäuser hatte ihr die gelben Ledersandalen, die sie immer anhatte, von einem türkischen Basar mitgebracht. Er hatte ihr den mit Silber und Blütenranken eingelegten Elfenbeinkamm geschenkt, den sie in ihrem wirren Haar trug. Er trieb sie des Nachts, wenn sie bei ihm lag, zu Schreien höchster Lust. Er machte sie weinen, wenn sie wachte, während er schlief und sie an seiner Brust ruhte und fürchtete, er könnte sterben. Amparo wußte, daß sie anders war als alle anderen Frauen. Wie oder warum, das konnte sie nicht erklären, aber es war schon immer so gewesen. Sie dachte, sie hätte das Geschlechtliche gekannt. Es war immer rings um sie herum gewesen: im Rammeln der Stiere, die ihr Vater gezüchtet hatte; in den jämmerlichen Behausungen, die sie im Laufe ihrer Wanderjahre mit den Menschen geteilt hatte; in den gewalttätigen Straßen von Barcelona; in Gestalt des Zuckerwerkverkäufers, der ihr das Gesicht eingetreten hatte; in den Landarbeitern, die sie zu Boden geworfen und auf ihr ihr Wasser abgeschlagen hatten, nachdem sie mit ihr fertig waren. In der Welt, die sie mit Carla teilte, einer Welt voller Musik, einer Welt mit Pferden und Frieden, kannte man derlei Dinge nicht, hatte niemals darüber gesprochen und sie so völlig ausgesperrt, daß es Amparo zunächst seltsam vorgekommen war. Jahre waren vergangen. Amparo hatte alles vergessen, und für sie war alles Geschlechtliche, genau wie für Carla, wieder zu einem Geheimnis geworden, das vernachlässigt und unbekannt geblieben war. Dann jedoch hatte sie Tannhäuser nackt gesehen. Beinahe war ihr das Herz stehengeblieben, als sie die Kreise, Halbmonde und den roten, gegabelten Dolch mit dem Drachenknauf gesehen hatte, mit denen seine Arme, Oberschenkel und Waden tätowiertwaren. Wahrhaftig, das war der Mann, denn sie in ihrem Zauberglas erblickt hatte. Mit wilder und schamloser Freude hatte sie sich ihm hingegeben.
    Tannhäuser und Carla würden vielleicht heiraten. Diese Tatsache ließ Amparo ungerührt, sie dachte nicht darüber nach, da das in weiter Ferne lag. Ihr schien es nicht so, als seien die beiden ineinander verliebt. Es schien nicht, als begehrte Carla ihn, zumindest hatte sie nichts dergleichen gesagt. Amparo hatte gesehen, wie Carla im Garten der Herberge vor seinem Kuß zurückgeschreckt war. Und wenn Carla nie von derlei Dingen redete, was konnte sie, Amparo, dann davon wissen? Die Niedergeschlagenheit ihrer Freundin hatte doch nur mit dem Jungen zu tun, überlegte Amparo, und leichteren Herzens verschwendete sie keine weiteren Gedanken mehr auf die Angelegenheit.
    »Holla.«
    Sie wandte sich der Stimme ohne Schrecken zu, obwohl sich ihr der Sprecher lautlos genähert hatte. Statt dessen schien der Junge selbst erschrocken zu sein, sie hier angetroffen zu haben. Sein Gesicht war schmal und bartlos, und seine Züge waren noch nicht vollständig

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