Das Sakrament
Dunkel hin, und er legte einen Finger an die Lippen und deutete auf den Boden.
»Schaut«, flüsterte er.
Eine lange, schlanke Eidechse huschte im faden Mondlicht über die Hafenmauer und blieb einen Schritt entfernt stehen, um sie mit vorquellenden Augen zu beobachten. Blitzschnell stürzte derJunge vor. Seine Hand schoß so schnell nach vorn, daß Amparo »Nein!« schrie. Er packte die Eidechse beim Schwanz. Das Tier wand sich, und der Schwanz blieb in seiner Hand zurück. Die gestutzte Eidechse verschwand rasch im Dunkel. Der Junge hockte sich neben Amparo auf den Boden und zeigte ihr den schuppigen Gegenstand.
»Gallotia« , sagte er. »Sehr klug. Sie brechen entzwei, damit sie am Leben bleiben.«
Er warf den Schwanz weg und schaute Amparo an. Ihre Gesichter waren nun auf gleicher Höhe.
»Also«, meinte er, »sie haben Euch ausgestoßen.«
Amparo blinzelte, als sie diese absurde Behauptung hörte. Er warf ihr ein trauriges Lächeln zu, mit weißen, schiefen Zähnen in seinem sonnengegerbten Gesicht.
»Mich auch. Rein, raus, rein, raus. So geht das Spiel, aber ich bin nicht traurig. Wenn die Türken sehr viele getötet haben, dann lassen mich die Ritter mit ihnen an der Front kämpfen, und wenn ich nicht sterbe, werde ich auch ein großer Mann. So geht es im Leben vorwärts, man muß viele töten. Tannhäuser, La Valette – den großen Kriegern steht die Welt offen. Ich will die Welt sehen. Ich kenne nur diese Insel. Sie ist klein, und ein Tag ist wie der andere.«
»Kein Tag ist wie der andere.«
Der Junge ließ sich nicht davon abbringen. »Ihr habt die Welt gesehen. Ist sie so groß und weit, wie alle sagen?«
»Weiter, als sich irgend jemand vorstellen kann«, antwortete Amparo. »Sie ist wunderschön und gleichzeitig grausam.«
»Es gibt dort viele grüne Bäume«, sagte er, um seine Bildung unter Beweis zu stellen. »Mehr als man in einer Woche durchreiten kann. Und es gibt dort Berge, die zu hoch sind, als daß man sie besteigen kann. Und Schnee.«
»Bäume und Schnee, Blumen und Flüsse, die so breit sind, daß man vom einen Ufer das andere nicht sehen kann«, stimmte ihm Amparo zu. Der Junge nickte, als bestätigte ihm dies, was er schon gehört hatte. In seinen Augen leuchtete die Leidenschafteines herrlichen Traums, und der bloße Gedanke, daß dieses Licht ausgelöscht werden könnte, erfüllte sie mit Trauer. »Aber was ist, wenn du hier in diesem Krieg stirbst?« fragte sie.
»Dann heißen mich Jesus und all seine Apostel im Himmel willkommen.« Er bekreuzigte sich. »Ich bin aber zu schlau, um zu sterben, genau wie die Gallotia . Ihr seid diejenige, die in Gefahr ist. Ihr glaubt mir nicht, aber macht Euch keine Sorge. Ich kenne Guzmán, einen Abanderado bei den Tercios von Neapel, und der kennt den englischen Stier – Barras?«
Amparo nickte. »Bors.«
»Ja, Bors. Ich werde Guzmán bitten, mit Bors zu sprechen, und die nehmen Euch bestimmt wieder auf. Tannhäuser würde Euch nicht am Hafen draußen schlafen lassen, da bin ich sicher, aber vielleicht ist er ja gerade dort draußen« – der Junge deutete mit dem Arm auf die Dunkelheit jenseits der Bucht – »und tötet türkische Generäle oder setzt ihre Schiffe in Brand.«
Als seine Phantasien immer seltsamer wurden, war Amparo verstört. »Woher weißt du, was Tannhäuser macht?«
»Die Männer am Posten von Kastilien reden über ihn«, antwortete der Junge, als wollte er damit andeuten, daß er zu ihnen gehörte. » Los soldados particular . Sogar die Ritter schätzen ihn. La Valettes Tür steht Tannhäuser offen wie keinem anderen. Nur Tannhäuser wagt es, sich unter die Feinde zu mischen.« Als bemerkte er ihre Bestürzung, fügte er hinzu: »Fürchtet nicht um Hauptmann Tannhäuser! Sie sagen, er wird niemals sterben. Tannhäuser kennt die Türken. Tannhäuser kennt den Sultan Suleiman selbst. Und vielleicht auch den Teufel. Aber sagt mir: Hat Euch die schöne Dame ausgestoßen? Was habt Ihr gemacht?«
»Ich bin nicht ausgestoßen«, erwiderte Amparo. »Ich lebe in der Herberge der Engländer.«
Er musterte sie erneut, diesmal mit einer Spur Ehrfurcht. »Warum seid Ihr dann hier?«
»Ich bin hierhergekommen, um Frieden zu finden.«
»Frieden?« Der Gedanke schien den Jungen zu verwirren. Er richtete sich auf. »Ich begleite Euch zurück zur Herberge. Sie istdas Zuhause von Starkey, dem letzten der englischen Zunge. Ich kenne sie sehr gut.«
Der Junge schien so fest entschlossen, sie ritterlich zu behandeln, daß
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