Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
eingeteilt: in den südöstlichen und den südwestlichen, sowie den nordwestlichen und nordöstlichen Quadranten. In jedem Sektor hatten drei Familien gelebt, doch jetzt war alles anders, denn beide alleröstlichsten Gehöfte waren abgebrannt ...
»Es ist nicht recht, einem Clan-Chef nicht zu antworten«, mahnte Meister Lamprecht.
»Wir wissen, daß du um deinen Vater trauerst«, sagte Meister Eilhart, »doch sicherlich hätte auch er gewollt, daß du uns sagst, was du gesehen hast!«
Dietleib blickte die Clan-Chefs nacheinander an. Sie wirkten wie eine Versammlung von bärtigen, ungewaschenen und verkommenen Greisen. Keiner war älter als Meister Wolfram in der Stunde seines Todes, und doch hatte die Anstrengung der letzten Wochen bei einigen von ihnen den Prozeß des körperlichen und geistigen Verfalls beschleunigt.
Sie hatten keine Kraft mehr. Seit sich die Bankerts unter König Corvay zu ihren Herren aufgeschwungen hatten, folgten sie nur noch stumm ihren Befehlen. Ihr Weltbild und ihr Selbstvertrauen waren zerstört.
Dietleib hätte in diesem Augenblick jeden der Clan-Chefs an den Schultern packen und so lange schütteln können, bis sie wieder zu dem wurden, was sie eigentlich sein sollten: die Patriarchen eines ganzen Volkes!
Vielleicht half jetzt doch nur noch der Schock der ganzen Wahrheit.
»Das Dorf ist verwüstet!« berichtete er in schonungsloser Offenheit. »Mein Vaterhaus und das von Meister Friedrich sind abgebrannt. In anderen Häusern sind die Scheiben eingeschlagen, die Vorgärten zerwühlt und die Tiere geschlachtet worden. Ich habe nicht sehr viel sehen können, aber ich fürchte, daß wir alle verhungern werden ...«
»Soll denn alles umsonst gewesen sein?« stöhnte Otto.
»Hast du Tiere gesehen?« fragte Eilhart der Jäger.
»Ja, das heißt, eigentlich habe ich sie nur gehört ...«
»Wir könnten uns aus dem schwimmenden Schatz ernähren«, meinte Meister Konrad. »Im letzten Herbst habe ich besonders viele Jungfische im See ausgesetzt. Ich folgte damit einer Vorahnung der Logenmeister ...«
»Schweig!« unterbrach ihn Walter der Schmied.
Mathilda kam zurück.
»Lea sagt, daß die Kräuter gut sind«, berichtete sie. Sie setzte sich ans Feuer. »Lea hatte noch etwas Schwarznesselkraut, Melisse und kleinblütige Königskerze.« Sie wandte sich an Dietleib. »Zusammen mit den Kräutern, die du aus dem Dorf mitgebracht hast, soll ich für sie den Sud brauen.« Sie hängte den Tontopf an drei Stöcken über die Flammen. »Störe ich euch?«
»Wir sprachen gerade über das, was ich im Dorf gesehen habe«, sagte Dietleib leise.
»Was wirst du schon gesehen haben? Wir wissen doch, daß sich die Bankerts kurz nach unserer Flucht in die Keller über das Dorf hergemacht haben! Wie ich die kenne, haben sie alles kurz und klein geschlagen ...«
»Ich habe es nicht gewußt«, sagte Dietleib leise. Mathilda lachte gutmütig.
»Du hast schon Kinder, aber du bist selbst ein Kind geblieben, Dietleib! Was denkt ihr denn, warum die Bankerts uns mit nach oben genommen haben? Aus Menschenfreundlichkeit? Aus Großmut? - Pah! Sie wissen, daß sie ohne uns kein Jahr im Sakriversum überleben können. Deswegen müssen wir jetzt beschließen, wie wir uns verhalten sollen!«
Die Kräutermischung im Tontopf über dem Feuer begann zu sieden. Mathilda rührte vorsichtig um. Sie war die einzige Frau unter den Männern, aber sie ließ sich nicht unterkriegen.
»Ich habe gehört, daß unser Volk zunächst hierbleiben soll«, sagte sie. »Die Bankerts wollen bei Tagesanbruch das Dorf in Besitz nehmen und Listen aufstellen, wer von uns sofort gebraucht wird. Außerdem wollen Sie ein Kontrollsystem einführen, das ich nicht verstanden habe.«
Sie nahm den Topf vom Feuer.
»Das muß jetzt etwas ziehen«, sagte sie. Sie wandte sich an Dietleib. »Jetzt kannst du Ulf holen! Wenn du wiederkommst, ist der Sud fertig. Ich werde ihn zu den anderen Familien bringen. Gleichzeitig sollten zwei oder drei von euch bis zum Feuer dieses Halunken Corvay schleichen. Wir müssen wissen, was sie planen!«
»Wir haben keine Erlaubnis, unser Feuer zu verlassen«, sagte Meister Wilhelm, der sonst so schweigsame Zimmermann.
»Und wer hat euch diese Erlaubnis nicht gegeben?« fauchte Mathilda. Sie blickte die zehn verstörten Clan-Chefs verständnislos an. »Meister Wolfram und Meister Wirnt sind tot - und ihr benehmt euch, als wäre nichts geschehen!«
Die Clan-Chefs neigten die Köpfe. Mit ihren hohen, breitkrempigen
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