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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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zurückgehen sollten, würde er sie begleiten.
    Er schlief so friedlich ein, wie lange nicht mehr.
    Weder er noch Agnes bemerkten, daß nur kurze Zeit später Hanns schwerbeladen an ihnen vorbeiging.
    *
    Guntram folgte dem Zeichen der Logenmeister am Nachthimmel bis zu Meister Albrechts Haus. Obwohl er der seltsamen Konstellation der Monde vertraute, fühlte er sich verwirrt und gleichzeitig geläutert.
    Er wußte, daß seine Welt von der Beherrschung einer komplizierten Mechanik abhängig war. Sie hatten sich nie darauf verlassen können, daß Kräfte der Natur selbstordnend Sommer und Winter, Frühling und Herbst brachten. Nur wenn die Eingeweihten zum rechten Zeitpunkt Sonnenlicht, Wind und Regen vorausberechnet hatten, ging die Saat in den Feldern auf, reiften die Früchte und vermehrten sich die Tiere.
    Schon deshalb bildeten die Mondzeichen ein geheimes Rechenbrett, aus dem die Logenmeister und andere Kundige zu lesen wußten.
    Guntram begann zu ahnen, wie schwer die Aufgabe war, die Meister Wolfram ihm übertragen hatte. Um alles zu lernen, würde er ein ganzes Leben brauchen!
    Aber vielleicht war das auch der Grund dafür, daß sich in den vergangenen Jahrhunderten niemals ein Clan-Chef über die anderen erhoben hatte. Sie waren aufeinander angewiesen, denn einer konnte dies, der andere jenes. Erst gemeinsam waren sie in der Lage, ihr kleines, künstliches Universum zu beherrschen. Und doch blieb immer noch vieles an ihrer Existenz dunkel und geheimnisvoll.
    Guntram sah zu den Monden hinüber. Das Zeichen der Logenmeister stand nicht steil über ihm, sondern im Süden. Es tauchte die Hütte von Meister Albrecht in ein gleichzeitig klar und diffus wirkendes Silberlicht. Da Guntram von der Teufelsmauer kam, näherte er sich dem verbotenen Gebiet von oben.
    Haus, Stall und Schuppen sahen alt und heruntergekommen aus. Er entdeckte lange nicht benutzte Gerätschaften, die an die Bilder aus den ersten Jahrhunderten seines Volkes erinnerten.
    Kaum merklich veränderte sich das Lichtzeichen der Logenmeister. Es wurde schärfer, heller, drohender. Es war, als würden die Beryllos-Linsen im Dach der Kathedrale das Mondlicht jetzt so bündeln, daß es direkt auf das Eingangstor von Meister Albrechts Haus fiel.
    »Öffne das Tor!«
    Guntram fuhr zusammen. Die dumpfe Stimme war direkt aus der Hausmauer gekommen. Im ersten Augenblick wollte er wegrennen.
    »Hab keine Angst, Guntram! Ich weiß schon lange, daß du mich besuchen wirst!«
    Guntram schluckte. Er hatte einen langen, anstrengenden Tag hinter sich. Gleichzeitig erinnerte er sich wieder daran, wie er den Weg aus dem Labyrinth der Teufelsmauer gefunden hatte.
    »Ich weiß, daß du mich suchst«, sagte die dumpfe, hohl klingende Stimme aus der Mauer. »So war es vor der Flucht mit deinem Großvater vereinbart ...«
    Guntram zögerte noch immer. Er hatte einfach Angst vor einer Falle. Er wußte, daß die Strafen hart waren für alle, die die verbotenen Bereiche des Sakriversums unbefugt betraten. Er sah auch ein, daß es so sein mußte, denn die Gefahr, durch unbedachtes Abweichen von den Regeln das ganze Dorf zu gefährden, war viel zu groß.
    Aber jetzt hatten nicht die gefürchteten Weltlichen die Südseite des Sakriversums entdeckt, sondern die Bankerts. Ob sich dadurch ganz andere Regeln und Vorschriften ergaben?
    »Wir dürfen keine Zeit verlieren«, drängte die Stimme aus der Mauer. »Komm zu mir, denn ich kann nicht mehr zu dir kommen ...«
    Guntram kaute auf seiner Unterlippe. Obwohl sich alles in ihm dagegen wehrte, das Verbotene zu tun, ging er langsam auf die Tür zu. Das Licht der Monde bildete für einen kurzen Augenblick einen feinen, hundertfach verstärkten Strahl, der genau auf ein altmodisches Schloß mit fünf Riegeln am Haustor zeigte.
    »Die Riegel öffnen sich, wenn du die Reihenfolge der Pythagoräer kennst«, sagte die Stimme aus der Mauer.
    Die Drei. Die Vier. Die Fünf. Und ihre Quadrate ...
    Guntram versuchte es. Er schob den dritten Riegel über neun schnarrende Einrastungen nach rechts. Den vierten Riegel drückte er sechzehn Kerben weiter, den fünften fünfundzwanzig.
    Im gleichen Augenblick erlosch das Licht der Monde. Die Dunkelheit war so beängstigend, daß Guntram unwillkürlich zurückstolperte.
    »Ich will den Feinden unserer Welt nicht zeigen, wo du bist«, sagte die dumpfe Stimme nach einer Weile. »Komm jetzt herein!«
    Guntram hob die Arme. Er streckte sie aus und ging ganz langsam auf die unsichtbar gewordene Tür zu.

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