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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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er Fußspuren auf den Stufen. Für einen Augenblick blieb er wie gelähmt stehen. Er schrammte mit den Schultern gegen das alte Mauerwerk. Er mußte sich setzen! Er mußte sich einfach hinsetzen!
    Die Spuren im Staub sahen frisch, aber seltsam verwischt aus. Und dann erkannte er plötzlich weitere Fußspuren - Hunderte von winzigen, weichkantigen Abdrücken wie von Puppenstiefelchen.
    Er fühlte sich auf einmal elend und aufgeregt zugleich. Sein Magen krampfte sich zusammen, während sein ganzer Körper zitterte.
    Es gab sie!
    Die Spuren im Staub neben seinen eigenen Fußabdrücken waren der Beweis!
    Wie in Trance taumelte er höher. Er folgte dem Weg, den die winzigen Menschen genommen hatten. Zehn, zwanzig Stufen weiter entdeckte er im Licht der untergehenden Sonne die Reste eines Vorratslagers, das er selbst angelegt hatte. Bis auf ein paar Plastikfetzen war nichts mehr von den Vorräten zu sehen.
    Goetz atmete tief durch.
    Wieder ein Beweis!
    Langsam beruhigten sich seine aufgepeitschten Nerven. Er versuchte, klar und nüchtern zu denken. Unwillkürlich dachte er an die MUSE . Die intelligente, verwandlungsfähige und mobile Computer-Einheit hatte ihn beauftragt, Vorratsstellen anzulegen.
    Warum?
    Wegen der Tiere, hatte sie gesagt, aber das konnte auch ein Vorwand gewesen sein ...
    Zum erstenmal kam in ihm der Verdacht auf, daß verschiedene Vorfälle der letzten Tage möglicherweise keine Zufälle gewesen waren. Schon der Gedanke daran machte ihn erneut krank. Er stöhnte auf und ließ sich mit weichen Knien auf eine Art Fensterbrüstung sinken. Sein Herz hämmerte so wild, daß er sich an die warmen Steine lehnen mußte.
    »Durchhalten!« keuchte er tonlos. »Nur nicht ... verrückt werden ...«
    Gleichzeitig drehte sich alles vor ihm: der Turm, die weite, leere Stadt tief unten, die rote Sonnenscheibe am Horizont, die Westfassade mit dem Rosettenfenster ...
    Er rutschte etwas zur Seite. Mit dem linken Fuß stieß er gegen einen metallisch-hohl klingenden Gegenstand. Mit flakkernden Blicken sah er zur Seite. Er kniff die Augen zusammen, dann erkannte er im Schatten der Mauer eine Cola-Dose.
    Und plötzlich lachte er. Es war ein mühsames, schwaches Lachen. Er beugte sich nach vorn. Mit der rechten Hand stützte er sich ab.
    Die Cola-Dose war leer. Trotzdem setzte er sie an die Lippen. Nicht mehr als vier, fünf Tropfen Flüssigkeit, ein halber Schluck vielleicht, rannen über seine trockene Zunge.
    Seine Finger preßten die Dose wie eine Papierschachtel zusammen. Mit einer müden Handbewegung warf er sie durch die Maueröffnung.
    Die Dose traf einen tieferliegenden Schwibbogen, kullerte bis zu einem Wasserspeier, fiel tiefer und hüpfte über die Köpfe von steinernen Heiligen, Königen und Aposteln an der Fassade der Kathedrale.
    Goetz hörte nicht mehr, wie sie unten aufschlug.
    Die Strahlen der untergehenden Sonne leuchteten noch einmal die ganze Größe des Rosettenfensters aus. Wie neu belebt durch die paar Cola-Tropfen konzentrierte er sich auf die Spur der kleinen Füße. Genau dort, wo er jetzt saß, verließ die Linie aus unzähligen Abdrücken im Staub den Turm. Sie führte um Verzierungen herum zur Westfassade.
    Goetz konnte deutlich erkennen, welchen Weg die unbekannten Wesen genommen hatten. Ihr Ziel mußte das Rosettenfenster gewesen sein.
    Er wußte nicht, ob er bereits Halluzinationen hatte. Unter anderen Voraussetzungen hätte er sich niemals ernsthaft mit zwergenhaften Fußspuren an der Fassade der Kathedrale befaßt!
    Der kleine, sterbende Taubenvogel fiel ihm ein. Wie lange war das her? Und dann die flüchtige Begegnung mit den Gnomen fast an der gleichen Stelle. Er hatte ihre Gesichter gesehen. Dazu ein Stückchen Stoff, nicht größer als die Bartbinde seines Vaters, aber mit feinsten Mustern gearbeitet, die ihn an alte Brusttücher erinnerten ...
    Er richtete sich auf.
    Auch wenn es Wahnsinn war, daran zu glauben: irgendwo hinter dem Rosettenfenster mußten Menschen leben!
    Und er war entschlossen, sie zu finden ...
    Seine Knie zitterten noch etwas, als er auf die Brüstung des Mauerdurchbruchs trat. Er durfte nicht nach unten sehen! Vorsichtig tastete er sich an den Verzierungen des Turms entlang.
    Quasimodo fiel ihm ein, der Glöckner von Notre Dame. Seine Geschichte hatte mehr von den Geheimnissen der Kathedralen enthüllt als alle Messen.
    Er griff nach einem Steinzapfen. Zentimeter für Zentimeter zog er sich höher.
    Esmeralda mit der Ziege!
    Beide verurteilt durch die Inquisition -

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