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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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Euterentzündungen verendet sein. Sie waren zu lange nicht gemolken worden.
    Im Osten lösten sich die Nebel über den Aasbergen auf. Das harte Licht der großen, wahren Sonne jenseits des Kathedralendachs brannte über den Hügeln und den Feldern. Nur langsam zogen sich die sengenden Lichtfinger zum Sammelgrund und zum Kompostanger zurück.
    Noch nie zuvor hatte Guntram einen Morgen wie diesen erlebt. Zum erstenmal verstand er, wie angreifbar, wie schutzlos und wie von äußerlichen Einflüssen abhängig das Sakriversum wirklich war. Ein Wunder, daß sie trotzdem siebenhundert Jahre überlebt hatten.
    Unten im Dorf tauchten Frauen auf. Sie öffneten die Holzladen vor den Fenstern, blickten erschreckt auf die blaue Lichtwand in der Tiefe und erstarrten. Einige bekreuzigten sich, andere schlugen die Hände vors Gesicht.
    Guntram hörte die fernen Schreie. Von seinem Platz aus konnte er ganz genau sehen, was geschah. Er wunderte sich darüber, daß er die meisten kannte.
    Sämtliche Frauen waren Schander ...
    Wie kamen sie ins Dorf? Und wo waren die anderen?
    Agnes! Er mußte zu Agnes!
    Hastig schloß er die Küchenfenster. Er riß ein Bündel zum Trocknen aufgehängtes Gemüse von der Wand. Es bestand aus Zwiebeln, Lauch, Majoran und Minze. Aus einem Wandbord nahm er sich ein hartes Stück Ziegenkäse und zwei duftende Äpfel aus der Vorjahrsernte.
    Er stopfte alles in seinen Gürtelbeutel. Vorsichtig füllte er einen zweiten Lederbeutel mit frischem Wasser aus dem Bleirohr in der Wand. Es war, als ahnte er, daß er in mancher Hinsicht nicht nur das Erbe von Meister Wolfram und Meister Albrecht angetreten hatte ...
    Als er das Haus verließ, das ihm viel größer vorkam als die Häuser unten im Dorf, nahm er sich drei Dinge vor: er wollte seine Frau finden, die Bankerts aus dem Sakriversum jagen und das Flugschiff in der Teufelsmauer starten.
    *
    Lello wälzte sich behaglich in den weichen Federbetten des Alkovens. So schön und warm hatte er lange nicht mehr geschlafen.
    Er reckte sich und blinzelte ins Sonnenlicht.
    Ein wundervoller Tag!
    Er drehte sich noch einmal um, dann strampelte er sich frei und ließ die Morgenkühle in seine Glieder ziehen.
    Mit einem Ruck setzte er sich auf. Sein linkes, etwas zu kurz geratenes Bein schmerzte nicht so wie an anderen Tagen. Er rutschte über die geschnitzte Bettkante, stieg über eine Leitertreppe hinab und humpelte durch die große, dämmerige Diele.
    Verwundert entdeckte er überall schlafende Schander und Bankerts. Sie lagen auf Mehlsäcken, Strohbündeln und Werghaufen.
    Lello stieß die Gattertür zur Küche auf. Durch die hellen, bunten Butzenfenster rechts und links sah die Küche viel heller aus als die Diele.
    Lello bewunderte die liebevolle Sorgfalt, mit der Teller, Tassen, Geschirr und anderes Gerät in Borden, Schränken und geschnitzten Wandregalen aufgestellt waren. An lehmigbraunen Wänden hingen geflochtene Kräuterzöpfe und gedörrtes Gemüse.
    Der Herd genau gegenüber der Gattertür zur Diele strahlte noch immer etwas Wärme ab. Weiße Aschenflocken lagen wie trockener Schnee über den ausgeglühten Holzscheiten.
    Lello stieg über die Körper von friedlich nebeneinander schlafenden Schander und Bankerts. Sie lagen vor dem Herd, unter dem großen Tisch und zwischen den Stühlen. Einige hatten sich gegenseitig in den Arm genommen, um sich zu wärmen.
    Es war ein friedliches, beinahe allzu friedliches Bild ...
    Lello nahm eine Schöpfkelle, hob die Deckel von verschiedenen Töpfen und kostete, was sie gekocht hatten, während er schlief. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie er ins Dorf gekommen war. Seine letzte Erinnerung endete am Lagerfeuer von Mathilda.
    Mathilda!
    Genüßlich schmatzend kaute er auf einem weichgekochten Stück Runkelrübe. Es schmeckte besser als alles, was er in den letzten Wochen gegessen hatte.
    Erst jetzt bemerkte er, daß er keine Hosen anhatte. Jemand mußte ihn gewaschen und neu bekleidet haben. Er trug einen gelbgrünen Blusenkittel mit braunen Borten am Halsausschnitt und an den Ärmeln.
    Mathilda hatte sich schon einmal um ihn gekümmert. Nach einer Besprechung mit Galus vor vielen Monaten hatte sich Lello heimlich auf den Weg zur Teufelsmauer gemacht. Er war von der anderen Seite gekommen. Und dann hatte er tatsächlich einen Durchschlupf gefunden! Er grinste, als er daran zurückdachte, wie ihn einige der Schander -Frauen versteckt und heimlich gepflegt hatten ...
    Barfuß lief er in die halbdunkle Diele zurück.

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