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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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Patrick stolz. »Ich kenne alle Formen des Verhaltens von Tieren und von Menschen, die über mehrere Generationen isoliert aufwachsen und dann gewaltsam getrennt werden. Es ist ein biologisches und gleichzeitig ein psychologisches Problem.«
    »Schnickschnack!« zischte Menennery Luck.
    »Laß ihn!« befahl Corvay. Er wandte sich an Patrick. »Und was ist der zweite Grund?«
    »Der sind wir selbst! Solange wir noch Schander sahen, fühlten wir uns überlegen. Doch jetzt beginnen einige von uns, darüber nachzudenken, daß sie eventuell selbst arbeiten müssen, wenn sie überleben wollen. Das war nicht vereinbart.«
    Für eine Weile starrten die anderen Berater von König Corvay in verschiedene Richtungen. Sie vermieden, Patrick Murphy anzusehen.
    »Da könnte etwas dran sein«, sagte Galus schließlich. »Wenn die Schander hier wären, käme wieder Ordnung in das Dorf!«
    »Und wo sollen sie wohnen?« fragte Menennery Luck spitz.
    »In ihren Häusern«, antwortete Patrick.
    »Moment mal ... und wir?«
    »Ungefähr dort«, sagte Patrick und wies auf den Hang zwischen der Linde und dem See.
    »Du meinst also, daß wir den Schandern das ganze Dorf überlassen sollen?« fragte Corvay.
    Patrick Murphy nickte.
    »Alles andere ist Selbstmord! Ich glaube, daß die Schander ihren Teil des Sakriversums in den vergangenen Jahrhunderten zu einer Parallelwelt mit eigenen Gesetzen ausgebaut haben. Sie wissen, wie das Bio-Klima an jedem ihrer künstlichen Tage sein muß. Sie können Zeichen lesen, von denen wir noch keine Ahnung haben, und sie kennen die verborgenen Geheimnisse ...«
    »Wieso Geheimnisse?« fragte Hector.
    Patrick schüttelte mitleidig den Kopf.
    »Habt ihr denn immer noch nicht verstanden, wo wir sind? Diese Welt wäre technisch vollkommen unmöglich ohne einen genialen Plan und ohne den Schutz von Eingeweihten«
    König Corvay strich sich durch seinen Bart.
    »Du meinst, daß sie seit siebenhundert Jahren ...«
    »Ja!«
    »Und wer? Wer hat ihnen die ganze Zeit geholfen?«
    »Die Päpste!«
    Im gleichen Augenblick veränderten sich die Strahlen der Beryllos-Linsen. Sie drangen zwischen den Blättern des Lindenbaums hindurch und zeichneten kleine, tanzende Lichtflecken auf die Gesichter von König Corvay und seinen Beratern.
    »Holt die Schander! « befahl Corvay schwer atmend. Gleichzeitig tobte eine Gruppe Kinder am Bach entlang zum See. Sie trieben luftgefüllte Schweinsblasen vor sich her, die wie weiße Bälle aussahen.
    *
    Die Geheimtür befand sich in einem Pfeilerbündel an der Ecke zwischen dem südlichen Seitenschiff und dem Querschiff der Kathedrale.
    Unter normalen Umständen wäre Goetz nie auf den Gedanken gekommen, daß sich eine Gruppe der grauen, feinverfugten Halbrundsteine bewegen ließ. Er hatte stundenlang nach einem Ausweg aus dem mächtigen, schweigenden Bau gesucht. Im bunten Licht, das durch die hohen Fenster der Südseite kam, hatte er die Nordseite der Kathedrale vom Hauptportal bis zum Kapellenkranz im Osten abgetastet. Kein Pfeiler, keine Arkade und keine Steinrippe waren seinen suchenden Fingern entgangen.
    An mehreren Stellen hatte er winzige Dioramen und Skulpturen im Mauerwerk entdeckt, die außer ihren namenlosen Schöpfern kein Mensch mehr gesehen hatte.
    Nur einer vielleicht!
    Die siebenhundert Jahre alten Steinmetzarbeiten hatten ihn in ihrer drastischen, furchteinflößend obszönen Machart unwillkürlich an Hieronymus Bosch erinnert. Vielleicht hatte der sonderbare niederländische Maler, der hundert Jahre nach der Fertigstellung der Kathedrale geboren wurde, nur abgemalt, was er an Höllenangst und ketzerischer Auflehnung im größten und vollkommensten gotischen Gotteshaus entdeckte ...
    War mit dem Bau der Kathedrale vielleicht bereits der Grundstein für die spätere Reformation und den Humanismus gelegt worden?
    Goetz wußte, daß Hieronymus Bosch einer Gemeinschaft nahe gestanden hatte, die sich Bruder vom gemeinsamen Leben nannten. Sie waren die ersten gewesen, die sich nach der Epoche fanatischer Frömmigkeit einem neuen, unmönchischen Lebensideal zuwandten, bei dem der Hände Arbeit mehr galt als das Absingen von Gebeten.
    Sie waren Praktiker, die nach wie vor an Gott glaubten, Bibeln abschrieben und in Bruderhäusern lebten. Aber sie waren aufgewacht und bekannten sich dazu, Menschen mit allen Fehlern, Schwächen und Gelüsten zu sein. So wie später der weltliche Mönch Martin Luther, der in den Brüdern vom gemeinsamen Leben seine Vorbilder erkannte ...
    Als

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