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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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goldenes Abendlicht durch den hohen Innenraum der Kathedrale flutete, hatte Goetz begonnen, die Mauern an der Südseite zu untersuchen. Irgendwo mußte es einen Ausweg geben!
    Trotzdem erschrak er, als er plötzlich sein Familienwappen unter staubigen Spinnweben an einem Eckpfeilerbündel erkannte: Drei Punkte wie ein Dreieck unter verschlungenen Girlanden und einer stilisierten Lilie, darunter vier quadratische Felder mit einem Zirkel links oben, einem Winkelmaß rechts unten, dem Alchimistenzeichen für Quecksilber rechts oben und dem Kreuzeszeichen links unten.
    Er drückte mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger auf die drei Punkte. Dabei spreizte er den Ringfinger und den kleinen Finger ab, so wie es eine Tischsitte im dreizehnten Jahrhundert gewesen war.
    Im gleichen Augenblick bewegte sich ein Teil des steinernen Pfeilerbündels. Die schweren, engverfugten Blöcke gaben nach. Hinter ihnen befand sich eine Wendeltreppe.
    Vorsichtig trat er in das Halbdunkel. Er wählte den Weg nach oben. Schritt für Schritt schraubte er sich durch die Dunkelheit. Er stolperte über unregelmäßig geformte Stufen. Halb kletternd und halb kriechend schleppte er sich weiter. Noch nie war ihm eine Wendeltreppenröhre so endlos vorgekommen! Er hatte immer öfter das Bedürfnis, einfach aufzuhören und zurück zu rennen - doch das war auch nicht besser.
    So stieg er weiter Stufe um Stufe durch die Dunkelheit. Nach seiner Schätzung mußte er längst über den Arkaden und dem Triforium sein. Obwohl er sie nicht sehen konnte, glaubte er, daß er die Lichtgaden der hohen Fenstergeschosse und das Maßwerk über ihnen bereits erreicht hatte.
    Die Wendeltreppe konnte doch nicht einfach immer weiter führen!
    In diesem Augenblick sah er den schwachen Widerschein von Licht. Mit weichen Knien stolperte er höher. Mit jeder Windung wurde das Licht heller, angenehmer und wärmer. Er keuchte, prustete und schnaubte. In seinen Schläfen und den Ohren pochte hart der Widerhall seines Herzens.
    Er schleppte sich mit letzter Kraft bis zu einer Öffnung in der Mauer, die wie ein Fenster zu den Lebenden aussah. Vollkommen erledigt ließ er sich auf die warmen Steine der flachen Brüstung fallen.
    Schräg vor sich sah er das steile Dach der Kathedrale. Im Westen erkannte er einen der hohen Türme. Dort hatte er die Vorratslager angelegt.
    Vorratslager!
    Er zitterte am ganzen Körper. Nur langsam wurde er ruhiger. Er sah den Steg an der Unterkante der Dachfläche. Wenn er dorthin gelangte, konnte er bis zum Südturm laufen ...
    Vorsichtig schob er sich durch die Maueröffnung. Hinter ihm ragte die Dachfläche des Querschiffs in den Abendhimmel. Zusammen mit dem Hauptdach bildeten die Bleiplatten einen schrägen Winkel. Wenn er in ihm nach unten rutschte, konnte er bis zum Sims gelangen ...
    Er biß die Zähne zusammen. Tief unter sich erkannte er die Dächer der ausgestorbenen Stadt. Sie sahen aus wie leere Hülsen auf einem riesigen, abgeernteten Feld.
    Er wartete, bis sich seine bebenden Muskelfasern wieder beruhigt hatten. Ganz langsam kroch er auf das Dach. Er hielt sich an winzigen, gläsern wirkenden Vorsprüngen fest, die wie gefrorene Tautropfen über die Bleiplatten verstreut waren.
    Zentimeter um Zentimeter rutschte er tiefer. Er hatte Angst, zu schnell zu werden, weil er nicht wußte, ob die Figuren der Dachgalerie das herabrutschende Gewicht seines Körpers auffangen konnten.
    Doch dann ging es leichter, als er gedacht hatte. Er kam am Sims an, ruhte sich eine Weile aus. Instinktiv etwas zum Dach geneigt tastete er sich über steinerne Verstrebungen und kunstvoll verzierte Wasserschläge bis zum Südturm der Kathedrale. Die Linien, Kanten und Grate reihten sich stalagmitenartig übereinander. Mit ihren filigran zusammengesetzten, immer wieder durchbrochenen Mittelteilen bildeten die Steinstücke eine schwerelos wirkende Konstruktion, die wie ein hohes Zelt aus gestärkten Brüsseler Spitzen aussah.
    Erst aus der Nähe wurde deutlich, wie schwer die Steine wirklich wogen, und wieviel Arbeit jeder einzelne Zierblock gekostet haben mußte.
    Goetz kletterte nach oben. Er griff in halbverwitterte Kerben, stützte sich ab und zuckte zusammen, wenn Steinsand unter seinen Fingern abbröckelte.
    Schwefeldioxid!
    Der böse Smog aus den Schornsteinen der Häuser und Fabriken in der Stadt, das Gift der Abgase und der saure Regen hatten die Kathedrale in den vergangenen Jahrzehnten mehr beschädigt als in den Generationen zuvor.
    Plötzlich entdeckte

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