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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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das Mädchen, weil es schön war, die Ziege, weil sie im Strafprozeß gegen ketzerische Tiere ihre Dressurkunststücke wiederholt hatte ...
    Goetz spürte, wie seine Finger brüchigen Stein berührten. Ein kindskopfgroßer Brocken löste sich aus dem Mauerwerk. Er prallte gegen seine Brust und fiel zwischen seinen Beinen nach unten.
    Goetz lehnte sich bebend gegen die Fassadenmauer. Das riesige Rosettenfenster kam ihm auf einmal viel zu groß und unerreichbar vor. Er mußte wirklich wahnsinnig sein! Wie kam er dazu, fast sieben Wochen nach der Ausrottung der Menschheit an der Fassade einer Kathedrale herumzuklettern?
    Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, als er den unteren Mauerring des Rosettenfensters erreichte. Verwundert stellte er fest, daß der steinerne Rahmen des haushohen Ringes mehr Platz bot als der Balkon seiner früheren Wohn-Mansarde.
    Eine Weile lag er nur auf dem Bauch und ruhte sich aus. Der Abgrund hinter der Kante der grauen Steine störte ihn nicht mehr. Erst als die Sonne zur Hälfte in den Dunst am Horizont eingetaucht war, stand er wieder auf.
    Diesmal hob er kaum die Brauen, als er sein Familienwappen neben einigen unverständlichen Zeichen in einem versteinerten Klumpen Mörtel am Fensterrand entdeckte. Die Spur der vielen kleinen Füße führte um den Störstein herum. Sie endete an einem zerbrochenen, ausgefranst wirkenden Fensterstück.
    Goetz reckte sich. Mit beiden Händen zog er die bunten Glasstücke nach außen. Sie fielen aus ihren Bleifassungen, zersplitterten am Rosettenrand und sprühten in die Tiefe.
    Seine Hände bluteten, als er das Loch im gewaltigen Rundfenster endlich groß genug gemacht hatte. Erschöpft kletterte er über die speichenartigen Mauerstreben.
    Knapp einen Meter innerhalb des riesigen bunten Fensters blieb er liegen. Er konnte nicht mehr. Mit geschlossenen Augen dachte er nur noch daran, endlich wieder zu schlafen. Er empfand die angenehmen Gerüche von Wiesen und Wäldern. Es duftete nach Blumen, frischem Brot und Fleischbrühe.
    »Hungerträume!« murmelte er. Mit einer schwerfälligen Bewegung strich er sich über die Augen.
    Er hätte nicht blinzeln sollen. In seinen Ohren dröhnte es wieder wie unter dumpfen Glockenschlägen. Er wollte einfach nicht glauben, was er sah:
    Menschen - richtige kleine Menschen!
    Männer ... Frauen ... Kinder ...
    Er hob den rechten Arm. Wie ein Ertrinkender wollte er ihnen zurufen, zeigen und sagen, daß er da war. Er schaffte es nicht mehr. Sein Arm fiel nach unten, platschte auf steinigen Boden. Sein Kopf sank zur Seite.
    Aber er lächelte - glücklich in seiner Ohnmacht, seinem Schlaf ...

20. KAPITEL
    Der 47. Tag nach der Katastrophe war ein Montag. Guntram wachte schon sehr früh auf. Während er aufstand und zum Wassertrog in der Küche von Meister Albrechts Haus ging, fiel ihm auf, daß der Einsiedler in der Nacht zu einem Sonntag gestorben war. Normalerweise war das die Nacht in der Woche, in der sich die Clan-Chefs im Buch-Heim trafen, um das Vergangene zu besprechen und die notwendigen Maßnahmen der kommenden Woche zu beschließen.
    Guntram wunderte sich, daß er das wußte. Er zog den Holzstöpsel aus einem Bleirohr an der Wand. Frisches, kaltes Wasser schoß in den Waschtrog. Erst jetzt bemerkte er, daß alle Einrichtungsgegenstände im Haus von Meister Albrecht viel größer waren als unten im Dorf.
    Er verschloß die Wasserleitung wieder und zog sich seinen aus Schafwolle gewebten und mit dem Sud aus Walnußschalen hellbraun gefärbten Blusenkittel über den Kopf.
    Aus einer Schale an der Wand nahm er eine Handvoll getrocknetes Seifenkraut. Er machte es naß und zerrieb es zwischen den Fingern, bis es schäumte. Er wusch sich sorgfältig und trocknete sich mit einem groben Handtuch ab. Nachdem er sich wieder angezogen hatte, ging er zu einem der beiden Küchenfenster. Es war schon lange nicht mehr geputzt worden.
    Die Holzscharniere knarrten, als der die Fensterflügel nach außen drückte. Unter ihm lag das Dorf in friedlicher, verschlafener Morgenstille. Außer dem Zwitschern einiger Vögel und dem Plätschern des Baches war nichts zu hören.
    Guntram sah zum Hof von Meister Lamprecht am westlichen Dorfrand. Dort mußte Agnes schlafen - seine Frau ...
    Er hatte sich die ersten Tage seiner Ehe ganz anders vorgestellt. Agnes sicherlich auch! Er fühlte sich plötzlich beschämt und innerlich betroffen.
    Warum war er nicht bei ihr? Welcher geheimnisvolle Zwang hatte ihn dazu gebracht, einen Weg zu gehen, der ihn

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