Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
noch eine Hoffnung haben, denn Guntram hat die zweite Hälfte von Rolands Testament!«
Er trank seinen Krug mit Met aus. Dann sagte er: »Bringt mir die Steine aus den Familienzeichen an den Häusern. Ich werde sie zusammenfügen und dann versuchen, ob ich mit Guntram in den Kontakt der weitfliegenden Gedanken treten kann.«
Die Clan-Chefs nickten stumm. Nacheinander standen sie auf und verließen das Buch-Heim. Bieterolf blieb als Totenwache zurück. Als der Letzte gegangen war, stieg er die lange Treppe hoch. Er nahm das Tuch vom Großen Buch, öffnete die Lade und begann die schweren, steifen Seiten umzublättern. Sie waren größer als er selbst.
Noch in der gleichen Nacht veränderte sich das Sakriversum ...
*
Agnes wachte sehr früh auf. Sie ging nach draußen, um sich zu waschen. Der Boden war noch immer feucht und schlammig. Über den Tälern hingen dichte Nebelschleier. Nichts regte sich auf den zerstörten Feldern.
Im gleichen Augenblick spürte sie ein merkwürdiges Gefühl in sich. Benommen mußte sie sich an einem Türbalken festhalten. Sie lächelte, als sie um Lamprechts Haus herum zur Straße ging. Sie wollte dorthin, wo ihr Haus gewesen war.
Zur Dorfmitte hin löste sich der Nebel auf. Im Osten drangen die ersten Sonnenstrahlen über die Hügel. Sie beleuchteten die hohe Dachkonstruktion mit ihren gewaltigen Balken, Verstrebungen und dem Netzgeflecht der Seilzüge.
Agnes eilte über die Brücke. Noch rührte sich nichts in den Häusern. Auch in der östlichen Hälfte des Dorfes war alles still. Als sie die gegenüberliegenden Gärten von Meister Otto und Meister Eilhart erreichte, wurden ihre Schritte unwillkürlich langsamer.
Am Tor zum Garten ihrer Familie blieb sie stehen. Hinter blühenden Büschen sah sie verwelkte Blumenbeete. Überall lagen Teile der Einrichtung im Schmutz.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als flache, rötliche Sonnenstrahlen aus den Fenstern an den Aasbergen die Hügelkuppen und das verkohlte Dach ihres Elternhauses trafen. Die schwarzen Balken ragten wie eingestürzte Grabkreuze aus den geborstenen Mauern. Es gab schon lange keine Gräber mehr im Sakriversum, aber so unheimlich wie die Ruine hatte sich Agnes stets die Friedhöfe aus den Erzählungen der Frauen unter der Linde vorgestellt.
Sie putzte sich die Nase, dann öffnete sie das Gatter. Zögernd ging sie zu der Stelle, an der sie ihre Puppe versteckt hatte. In den vergangenen Tagen hatte sie absichtlich jeden Gedanken an das niedergebrannte Haus unterdrückt. Sie wollte einfach nicht daran denken, daß sie kein Zuhause mehr hatte.
Behutsam löste sie den violetten Amethyst-Quarz aus der Mitte des Familien-Zeichens. Sie drehte die Scheibe und nahm sie ab. Der Hohlraum dahinter war leer!
Agnes zitterte plötzlich am ganzen Körper!
Die Puppe! Wo war die hölzerne Puppe?
Über ihr blinkten die ersten Beryllos-Linsen auf. Aus feinen, schräg durch das Sakriversum tastenden Sonnenstrahlen wurde ganz langsam ein Bündel helles Licht. Jetzt wachten auch die Tiere auf. In den Büschen zwitscherten Vögel, unten am See schnatterten Enten und in den Gärten krähten etwas verspätet ein paar junge Hähne.
Trotzdem hatte Agnes das Gefühl, unter einer unsichtbaren Glocke aus kalter Angst zu stehen. Jedes Geräusch, jedes Rascheln der Blätter und selbst das Morgenlicht vom Dach lähmte sie. Sie fürchtete sich einfach davor, daß wieder Bankerts aus den Häusern kamen.
Seit sie gesehen hatte, daß ihre Puppe weg war, hatte sie plötzlich keinen Mut mehr. Sie hängte das Familien-Zeichen wieder an die Wand. Wehmütig betrachtete sie den violett schimmernden Amethyst in ihren Fingern. Zum erstenmal sah sie drei winzige Einschlüsse im Stein. Sie ergaben ein gleichschenkeliges Dreieck.
Hatte dieses Zeichen nicht auch auf den Schriftröllchen in den hohlen Gliedern ihrer Puppe gestanden? Sie überlegte, wen sie fragen konnte, was die Zeichen bedeuteten. Vor Meister Bieterolf hatte sie zuviel Respekt, aber vielleicht wußte Otto mehr darüber. Seine Familie hatte stets neben den Alchimisten gewohnt. Außerdem verstand sich Otto auf geheime Dinge. Er trug das Augenzeichen der Logenmeister, selbst wenn er nicht zu den Eingeweihten gehörte.
Sie schloß ihre Finger um den Amethyst. In Ottos Haus waren auch Bankerts einquartiert. Sie mußte sich eben so lange in seinem Garten verstecken, bis sie ihn allein antraf ...
*
Nach und nach wachte das Dorf auf.
Die Kinder verlangten nach ihrem lange entbehrten
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