Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
verrotteten. Wenn der Regen die riesigen Lager der pharmazeutischen Fabriken ins Grundwasser spülte und wenn in ein paar Jahren die Mauern der Atomkraftwerke und die nicht mehr benutzten Raketensilos zerfielen.
Er würde es nicht mehr erleben!
Seit dem vorangegangenen Abend wußte er, daß er nur noch ein paar Wochen hatte. Nach seiner Rückkehr aus dem Sakriversum hatte er sich zunächst zögernd und dann immer entsetzter selbst untersucht. Es war nicht einmal schwer gewesen, die Anweisungen der Analyse-Automaten zu befolgen. Ein paar Hautschuppen, einige Tropfen Blut und etwas Urin hatten ausgereicht, um die Wahrheit herauszufinden.
Er lachte trocken, als er an die letzten amtlich ermittelten Werte seines Körpers dachte. Er hatte sich nie für Blutsenkungen, Leukozyten, Anämie oder das Bergonic-Tribondeausche Gesetz über die proportionale Zunahme der Empfindlichkeit von Zellen unter harter Strahlung interessiert.
Jetzt wußte er, was das hieß!
Der Kultivator quälte sich über einen Haufen Schutt. Metallreste ragten skelettartig aus dem künstlichen Hügel zwischen zwei eingestürzten Hochhäusern. Kurz vor der Kuppe entdeckte Goetz hellgrüne Grashalme zwischen den Trümmern.
Die Pflanzen schienen es zu schaffen.
Er schaltete den Motor des Kultivators aus und stieg ab. Vorsichtig pflückte er einen Grashalm mit dem unförmigen Handschuh seines Schutzanzugs. Er konnte nicht an ihm riechen, ihn nicht einmal wirklich anfassen.
Wie viele Jahrtausende mußten erneut vergehen, bis sich aus den verseuchten Trümmern der untergegangenen menschlichen Zivilisation ein neuer Geist und eine neue Kultur entwickelten?
Er dachte an Lebewesen, die vielleicht ganz anders aussahen als er selbst. Die Saurier hatten Jahrmillionen die Erde bevölkert, ehe sie auf rätselhafte Weise starben. Die Menschen hatten nur ein paar Jahrhunderte benötigt, um jede Ehrfurcht vor der sie umgebenden Natur zu verlieren. Und nicht einmal zweihundert Jahre waren nötig gewesen, um den kollektiven Selbstmord vorzubereiten.
Er konnte nicht einmal darüber weinen!
Als er sich umdrehte, sah er nur etwa anderthalb Kilometer entfernt die Kathedrale. Sie stand wie eine lichte Engelsburg in einem Meer aus Trümmern und Zerstörung. Goetz hatte nie zuvor ein Bild gesehen, das eindrucksvoller, schöner - und grausamer zugleich war.
Und unter dem hohen, im Licht der Sonne glänzenden Dach lebten Menschen, die ihn brauchten!
Der Gedanke an seine Schander machte ihm wieder Mut. Er wußte jetzt, daß er hier draußen nichts mehr verloren hatte. Der Geigerzähler an seiner Brust war mehr als eine Warnung: er sprach das letzte Urteil!
Goetz verzichtete darauf, in den Ruinen nach Gegenständen zu suchen, die er brauchen konnte. Er hatte es versucht. Mehr konnte er nicht tun, wenn er die wenigen nicht gefährden wollte, die außer ihm die Katastrophennacht überstanden hatten.
Er stieg auf den Kultivator und ließ den Motor an. Knatternd und fauchend wendete das kleine Fahrzeug. Goetz fuhr bis in die Altstadt zurück. Dann ließ er die Maschine mitten auf der Straße stehen.
Er ging die letzten Meter bis zum Portal der Kathedrale zu Fuß. Als er die breiten Stufen hinaufging, wußte er, daß er sie zum letztenmal betrat. Er würde nie mehr weiter als bis zur Plattform vor der Kathedrale gehen. Von diesem Augenblick an sollte der Rest der Welt verbotenes Gebiet sein!
Er zog sich splitternackt aus. Vorsichtig trug er den Schutzanzug und alle anderen Sachen in den Treppenaufgang des Nordturms. Den Magnetschlüssel benötigte er nicht mehr. Er verschloß die Tür, dann warf er ihn über den Vorplatz in Richtung auf die schwarze Ruine des Verlags.
Nackt, wie er war, ging er durch das hohe, in den Farben der Fenster leuchtende Mittelschiff. Er wußte nicht, warum die Kathedrale die verheerenden Erschütterungen während der Katastrophe viel besser überstanden hatte als die modernen Hochhäuser in der neuen Stadt. Vielleicht hing es mit irgendwelchen, gegenläufigen Druckwellen zusammen. Er wollte es nicht mehr wissen.
Merkwürdig - seit er das Leben oben im Sakriversum und die Zeichen des Todes draußen gesehen hatte, kam ihm die Kathedrale nicht mehr wie ein Bauwerk mit übertrieben weit nach oben ragenden Seitenwänden vor. Er fing an, die Funktion des Raums zu verstehen, der immer mehr gewesen war als eine hohe, geräumige Höhle, in die sich Menschen auf der Suche nach sich selbst oder nach irgendeinem Gott zurückgezogen hatten.
Hatten nicht
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