Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
zurollen. Die Steine aller Pfeiler, aller Wände wirkten wie zierlich aufeinandergefügte Bauteile, die nichts mehr von der Mühe und der Arbeit verrieten, mit der sie aus dem Fels gebrochen und behauen worden waren. Trotzdem erkannte er überall die klare Ordnung des Quadrats. Die Bögen und die Rundungen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß das phantastische Gewölbe auch in der Höhe, die den Himmel suchte, rechtschaffen aufgebaut war - nach Prim, Oktav, Quinte, Quarte, Terz.
Der Baumeister der Kathedrale hatte sich an die strengen Regeln seiner Kunst gehalten, und nur an einer Stelle war er von der Rechtwinkligkeit in Kopf und Herz, Tun und Sein abgewichen: Ganz oben, über den Scheidbogen, die das Mittelschiff von den Seitenschiffen trennten, stimmten die Vierungen zu den Querschiffen nicht mehr. Zwischen dem oberen Teil der Apsis, des Chores im Ostteil der Kathedrale, und dem Langhaus im Westen hatte die steile Gewölbeschlucht einen Fehler, der Goetz plötzlich und unvermittelt an lateinische Gotik erinnerte. Der Bau verlor sich nach oben hin nicht ins Unendliche, sondern wurde - geschickt getarnt - durch eine Reihe von flacher gewölbten Bogen aufgefangen.
Bisher hatte er nirgendwo eine ähnliche Kombination verschiedener Baustile gesehen ...
Goetz parkte seinen Gabelstapler direkt vor den Stufen zum Altar. Er kletterte nach unten. Seine Schritte klangen merkwürdig leise im großen, leeren Kirchenschiff. Es war, als würde die hohe Weite alle Geräusche dämpfen, die nicht zum Ritual eines Gottesdienstes gehörten.
In früheren Jahrhunderten war die Kathedrale Schutz, Heimat und Zufluchtsort gewesen. Und das nicht nur für jene, die in ihrem Schatten wohnten.
Jetzt lauschte ein junger Mann, der glaubte, der einzige Überlebende einer großen Katastrophe zu sein, dem Nachhall der vergangenen Epochen.
Hörte er Pilger atmen, die im großen, banklosen Kirchenschiff übernachten durften? Hörte er Vogelfänger, die mit Pfeil und Bogen nach Beute im Gesprenge über dem Altar jagten? Hörte er Jungfrauen hinter Säulen seufzen? Oder gar Bänkelsänger aus der Krypta, in die sich Weinhändler mit ihren Fässern zurückgezogen hatten?
Wer sang, wer seufzte und wer stöhnte da?
Wer lachte weit entfernt? Und wer ließ klirrend Schwerter klingen?
Goetz trat langsam bis vor den Altar. Die Scheinwerfer des Gabelstaplers wirkten wie tote, gelbe Augen im strahlend bunten Licht, das plötzlich durch die unzerstörten Fenster strömte. Beinahe greifbare Bündel aus reinen Farbstrahlen leuchteten schräg durch das große Mittelschiff der Kathedrale. Sie malten die Erinnerung an Gott und die Menschen, die alles einmal geschaffen hatten, auf hellgraue Säulen und staubige Bodenplatten.
Goetz genoß den Frieden in der Kathedrale. Doch gleichzeitig wuchs die Angst in ihm. Er war verrückt! Wie konnte er die Stunden verstreichen lassen, ohne zu wissen, wo er die nächste Nacht verbringen sollte?
Natürlich war es möglich, ganz einfach in der Kathedrale zu bleiben, aber wovon sollte er leben? Von Meßwein und Oblaten?
Er hatte Hunger!
Seit Wochen hatte er sich nur schlecht und notdürftig ernährt. Er dachte plötzlich an Wildschweinbraten, an Kartoffeln, Honig und Tomatensalat. Seine Erinnerung spielte ihm einen Streich. Er mischte alles durcheinander, was er früher gern gegessen hatte: Stachelbeermarmelade, Cornflakes, Gurkensuppe mit Joghurt, Bärenschinken ...
Er preßte beide Hände auf seinen Magen. So schwach wie jetzt hatte er sich die ganzen Tage nicht gefühlt!
Irgendwo in dieser riesigen Kathedrale mußte doch eine Art Aufenthaltsraum für Kaplane, Priester und Bischöfe sein ...
Goetz ging langsam um den Altar herum. Vorsichtig versuchte er, ein paar Türen zu öffnen. Sie waren verschlossen. Mit jedem erfolglosen Versuch wurde er ärgerlicher. Er hämmerte mit den Fäusten gegen altes Holz, rüttelte an Riegeln und trat mit den Stiefeln gegen hohl klingende Bohlen.
Als die letzte Tür nachgab, taumelte er vollkommen überrascht in einen schmalen Gang. An der rechten Seite hingen schwarze Soutanen in einer Nische. Links befand sich ein in die Steinwand eingelassenes Pult, auf dem ein dunkelroter Kasten aus Kunstleder lag.
Goetz sah den Kasten nachdenklich an. Für einen langen Augenblick versuchte er, nicht zu atmen. Im Halbdunkel des Gangs bewegte er sich vorsichtig auf das Wandpult zu. Er zögerte eine Weile, dann drückte er mit den Daumen die beiden Schnappverschlüsse des Kastens
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