Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
habe«, gab Corvay zu. »Das Wichtigste ist, den Eingang in die Südseite des Sakriversums zu finden ... «
»Kein Problem!« knurrte Hector. »Wir sprengen einfach eine Scheibe aus dem Rosettenfenster an der Westseite der Kathedrale!«
»Wie naiv bist du eigentlich?« fragte Galus. Er hatte sich innerlich bereits auf die Seite Corvays gestellt. »Glaubst du im Ernst, daß sich die Eingeweihten so leicht übertölpeln lassen?«
»Davon verstehe ich nichts!«
»Eben!«
»Man könnte es vielleicht mit Hilfe der Weltlichen versuchen«, überlegte Menennery Luck. »Ein paar gezielte Hinweise ... «
»Und dann?«
Menennery Luck kam nicht mehr zu einer Antwort. Oberhalb des Lagerplatzes löste sich ein Stein vom Hang. Er polterte bis in den Müll.
Die vier Männer fuhren herum. Sie sprangen auf und starrten in die Dunkelheit. Im gleichen Augenblick hörten sie das leise Wimmern eines Kindes. Ein junger Mann und ein Mädchen tauchten auf. Sie sahen wie Geschwister aus. In den Armen trugen sie zwei kleine Kinder.
»Schander!« zischte Menennery Luck überrascht. »Was wollen die denn hier?«
»Verzeiht, wenn wir euch stören«, sagte der junge Mann. Er kam nur zögernd tiefer. »Wir haben euer Gespräch gehört und möchten euch bitten, uns den Weg nach unten zu zeigen ...«
»Nach unten?« fragte Menennery Luck.
»Ja! Ihr wißt doch, wie man aus dem Sakriversum zu den Weltlichen kommt! Wir kennen nur die Wege in die Bleikeller ... «
»Aber warum? Warum, bei allen Geistern des Himmels und der Erde, wollt ihr freiwillig nach unten?«
Der junge Mann lächelte verlegen.
»Wir sind nicht ganz so freiwillig hier, wie ihr meint. Wir mußten fliehen, weil wir zu viel wissen ...«
»Interessant, interessant«, murmelte Galus.
Unbemerkt waren andere Schatten am Rand des Feuers aufgetaucht. Zerlumpte Gestalten näherten sich von allen Seiten. Sie bildeten eine Mauer des Schweigens.
»Haben sie Vorräte?« tuschelten die Stimmen.
»Was ist in ihren Beuteln?«
Eine alte Frau reckte ihre krallenartigen Finger vor.
»Wie wärs mit einer kleinen Gabe, edler Herr?«
Andere drängten sich näher. Sie tasteten über die Kleidungsstücke der Neuankömmlinge, befühlten ihre Gesichter und untersuchten eilig, ob sich die Schnüre des Gepäcks auf dem Rücken des jungen Mannes und seiner Begleiterin lösen ließen.
»Zurück!« rief Llewellyn Corvay.
Die Bewohner der Nordseite des Sakriversums murrten.
»Sie haben Hunger, Corvay!« mahnte Galus leise. »Und die da sehen aus, als hätten sie genügend Proviant bei sich ... «
Eine junge Frau, die nicht viel älter aussah als das Mädchen an der Seite ihres Begleiters, drängte sich vor. Sie hatte ebenfalls ein Kleinkind in den Armen.
»Gib deinem Sohn Lello etwas zu essen, Ekkehard!« rief sie verzweifelt.
»Mein Sohn heißt Guntram und meine Tochter Agnes!«
»Und dieser hier? Soll er denn nicht dein Sohn sein aus jener Nacht, in der du mir versprochen hast, mich eines Tages auf die andere Seite zu holen?«
»Jetzt ist es aus, Lea, du Hure!« schrie einer aus der Menge. »Macht sich mit einem von den anderen eine schöne Nacht und bettelt dann bei uns um milde Gaben!«
Ein Stein flog gegen Ekkehard. Uta schrie auf. Im gleichen Augenblick erkannte Lea die Gefahr. Sie stolperte über den felsigen Boden höher.
»Hilfst du mir, helf ich dir!« flüsterte sie hastig. Uta nickte benommen.
»Schlagt sie tot!« brüllte einer der Bankerts. »Sie haben uns schon immer alles gestohlen: die Sonne, die Felder und jetzt auch noch unsere Frauen!«
»Halt!« rief Llewellyn Corvay.
»Misch dich nicht ein!« warnte Galus.
»Ihr seid auch so wie die!« brüllte der Anführer der Rebellen. Messer blitzten auf. Hector, Galus, Menennery Luck und Corvay stürmten höher. Sie wußten, wie schnell auf der Nordseite des Sakriversums Blut floß.
Hector schnappte sich die drei kleinen Kinder. Ehe sich die anderen versahen, verschwand er mit ihnen in der Höhle, in der Galus lebte. Als er zurückkehrte, erhielt Menennery Luck gerade einen gewaltigen Knüppelhieb zwischen die Schultern. Außer Galus war keiner der vier ein ständiger Bewohner des Sakriversums.
Beutel und Säcke von Ekkehard und Uta wurden von gierigen Händen aufgerissen. Brot, Speckseiten, Trockenfrüchte und Dauerwürste flogen über die Köpfe der ewig Hungernden hinweg.
Milch spritzte aus platzenden Lederbeuteln.
»Los, weg hier!« befahl Corvay. Er schwang ein Krummschwert, das er in irgendeinem Trödelladen der
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